Vor allem viele, sollte man meinen. Wenn man auf der Autobahn fährt, hat man ständig einen mit dem Kennzeichen SHG vor sich, der in halsbrecherischer Weise versucht, nach Hause oder von zu Hause weg zu kommen.

In Wirklichkeit sind sie höchstens 40.000 und nicht jeder von ihnen hat ein Auto. Aber wie wir sehen werden, treten sie auch getarnt mit anderen Nummernschildern auf, dann erkennt man sie allerdings unschwer an ihrer Fahrweise. (Bis Mitte der 90er Jahre hätte man alle Ossis für verkappte Schaumburger halten können.)

Doch erst einmal müssen wir differenzieren: die Schaumburgerin / den Schaumburger gab es lange nur im Untergrund und offiziell erst seit 1977 wieder: da wurden die Grafschaft Schaumburg und das Fürstentum Schaumburg-Lippe nämlich wiedervereint, aber auch - gegen den erklärten Willen der Bevölkerung - endgültig von Niedersachen vereinnahmt. Alles kam so: Um 1030 wurde das Grafengeschlecht der Schaumburger mit der gleichnamigen Grafschaft belehnt, 1647 die Grafschaft als Teil des Westfälischen Friedens zwischen Braunschweig-Lüneburg, Hessen-Kassel und den Grafen zu Lippe geteilt. Der lippische Teil wird 1807 zum Fürstentum Schaumburg-Lippe. 1918 mußte Adolf d.J. abdanken, Schaumburg-Lippe ist bis 1946 Freistaat. Die hessische, ab 1821 sogar niederhessische, Grafschaft Schaumburg kommt 1866 zum preußischen Hessen-Nassau und wird 1932 der preußischen Provinz Hannover zugeschlagen. 1946 kommt alles - vorläufig, so stand's in der Verfassung - zu Niedersachsen.

Der Sitz der Schaumburger Fürstenfamilie ist Bückeburg. Lilly, um das gleich vorwegzunehmen, gehört nicht von Geburt an dazu und ich kann mir auch nicht vorstellen, daß die Schaumburger sie wirklich geliebt haben: sich am Bunjee-Seil vor der Bückeburger Kirche in die Tiefe zu stürzen, hat sie zwar einmal mehr in die Schlagzeilen gebracht, aber der Schaumburger ist eigentlich der Erfinder des Understatements: so gehörte der Fürstenfamilie zwar lange Zeit das Steinhuder Meer, etliche Schlösser, der Schaumburger Wald, halb Österreich und womöglich etliche Nordseeinseln. Aber wen interessiert das schon? Zur sprichwörtlichen Volksnähe der Fürstenfamilie gehörte auch, daß die Jungprinzen (von denen nur noch einer lebt, der andere kam vor Jahren bei einem Motorradunfall ums Leben) in den 60ern in die ganz gewöhnliche Grundschule gingen und vor allem dadurch auffielen, daß sie auch im Sommer - aus welchen Gründen auch immer - manchmal mit Pudelmütze kamen.

Langer Rede kurzer Sinn: den Schaumburgern haben all diese Irrungen und Wirrungen wenig anhaben können, im Gegenteil: trotz wechselnder Herrschaften haben sie es nicht nehmen lassen, munter untereinander verbandelt zu sein und so ist fast jede/r mit jeder/m verwandt (ein Blick in eins der Register der zahllosen Vereine beweist es).

1945 änderte sich dies vorübergehend: die Flüchtlinge kamen, überfluteten die Gegend und waren nicht gern gesehen. Ich selbst bin ja vorgeburtlich vertrieben und weiß eher wenig über diese Zeit. Meine Eltern landeten zunächst mit den Kindern im Flüchtlingslager in Uelzen, später in Warber und wurden schließlich in Gelldorf einquartiert. Unsere Hauswirtin, Frau (Sophie) Deppe, war Witwe, ihr Sohn Willi studierte auswärts und wenn er am Wochenende kam, durfte ich sein Auto waschen. Manchmal bekam ich etwas dafür. Wir gingen stoppeln, suchten die abgeernteten Getreidefelder nach liegengebliebenen Ähren ab, halfen den Bauern bei der Ernte. Später wurde mein Vater Flüchtlingsbetreuer - und konnte die späte Rache der Flüchtlinge für viele Demütigungen nicht verhindern. Nach dem Lastenausgleichsgesetz erhielten sie Zahlungen für bei der Vertreibung erlittene Verluste und er wußte genau, wer bei seinen Angaben potemkinsche Dörfer erfand und Geld ergatterte, was ihm nach dem Gesetz nicht zustand. Die Flüchtlinge blieben erst mal unter sich: auch wir besuchten die Treffen der Heimatvertriebenen und Entrechteten, in unserem Wohnzimmer hing das Bild des Breslauer Rathauses und ich erlebte in der neuen Manchesterhose und einem kratzigen Pullover eine schreckliche Weihnachtsfeier des BHE im Saal des Vehler Krugs: ich wurde - wie alle Kinder - nach vorne gerufen und bekam aus der Hand eines fürchterlichen Weihnachtsmannes eine braune Papiertüte mit Äpfeln und Nüssen. - Doch die Schaumburger haben ein großes Herz. Irgendwann fanden sie sich mit den Eindringlingen ab - und verheirateten sich gelegentlich sogar mit ihnen.

Doch kehren wir zur Ausgangsfrage zurück: woran erkennt man die Schaumburgerin / den Schaumburger? Nun, vor allem natürlich an ihrer / seiner Tracht (weltbekannt ist ja die Bückeburger), am Platt (über das es kein Buch gibt und das als Geheimsprache gelten kann; was mag wohl: "Ek sette mit mihn Tittenkumb inne Mejewippn" heißen?) und am ungestümen Biertrinken. Letzteres hat seinen Grund darin, daß das einzig in der Gegend gebraute Bier so dünn ist, das man unendlich viel davon trinken muß (also ein typisches Schützenfestbier). Trinkt der Schaumburger eine andere Sorte, ist er unweigerlich schnell betrunken. Das fiel in der Zeit, in der es wenig Autos gab, nicht weiter auf -, wenn nicht gerade Schützenfest war. Meist war aber irgendwo Schützenfest - und dann prügelte sich der Schaumburger, daß die Fetzen flogen ... In Ergänzung zum Bier griff der Schaumburger früher auch gern mal zu Bilsenkraut, Stechapfel und Tollkirsche, später lernte er den Joint schätzen, kiffen ist nicht nur rund um das Bückeburger Schloß heute ein gern gepflegtes Kulturgut.