Otto Gross an Frieda Weekley
1. [1] Meine Geliebte, ich habe Sehnsucht nach Dir. Ich erlebe jetzt, was Du in meinem Leben für eine Schicksalsmacht geworden bist, was für be- herrschende Kräfte durch Dich in mein Leben strömen, wie wichtig sich in Deinem Bild die Welt und mein Streben zusammenfügen - Siehst Du, das waren die zwei grossen Wandlungen, die mir die Liebe gebracht hat: durch Frieda habe ich die Welt als einen Werth verstehen und an die Welt zu [2] glauben gelernt - durch Dich an mich selber ----
So wie wir heute zu Einander stehen, ist's nimmermehr gestattet mit irgend einer Vorsicht von unseren Dingen zu reden - darf nimmermehr Vorsicht zur Geltung kommen, aus der noch [3] mein letzter Brief an Dich entstanden war ..... Ich kann jetzt nicht mehr unsere Liebe noch wegzudenken ver- suchen - kann nicht mehr anders als mit dieser Liebe die Zukunfts- möglichkeiten ansteuern .. Weisst Du, das mit der Angst, dass hat sich jetzt geändert -
mir ist jetzt nicht mehr vorstellbar, dass unsere Liebe auch nicht mehr blühen könnte, ich kann nicht mehr zu einem Bild gelangen, in dem sie nicht mit dabei wäre - So haben meine Gedanken aufgehört jenen Weg zu gehen. So kann ich jetzt restlos klar zu Dir reden - und Klarheit wirst Du jetzt vielleicht vor allem [4] brauchen können - - - Du bist mir nothwendig, Frieda, nothwendig, weil Du mich gross und sicher machst - nothwendig Du mein Leuchtfeuer Du - -
- - das ist es, was ich Dir von mir zu sagen habe - so, wie ich das jetzt erlebe, musst Du es wissen - - Geliebte, was ist jetzt mit Dir ? Ich beschwöre Dich, schick' mir Nachricht - es fängt erdrückend auf mir zu lasten an, so gar nichts von Dir zu wissen in diesen augen- blicken - Geliebte Du, gerade jetzt gehöre doch ich zu Dir gerade jetzt - ich bin jetzt doch untrennbar zu Dir gehörig geworden -
2. Du kannst mich doch auch nicht mehr aus einer Phase Deines Lebens wegdenken - wir haben Einander doch gefunden, Frieda - - Du helles Feuer, lass Dich nicht verlöschen, lass mir Deinen Schein, es ist so [5] dunkel auf meinem Weg - Du segenspendende Kraft und Glut, verzehr Dich doch um Gotteswillen nicht in ersticktem Brand - - - ------------------------- Soeben kommt Dein Telegramm - so düster, wie ein Seufzen - - Oh Frieda, komm zu mir, ich erwarte Dich
ich sehne mich unendlich nach dieser unerhörten nie ausgekosteten Möglichkeit, dass erst ein [6] schrankenloses triumphierendes Ja ganz frei und stolz und über aller Fesseln hoch hinaus sich auf- richten kann - - Dies Ja, dass Du und ich Einander sagen dürfen, wenn keine fremde Macht, kein fremder Befehl mehr sich einmischen darf
in unsere von der Nothwendigkeit selbst nach aufwärts gerichtete Bahn - - Denk an die Nacht auf dem Schiff - da hatten wir den Ausblick auf diese Zukunftsglück- seligkeit - da sagtest Du "ich gehe, um zu kommen". Da fühlten wir erst Beide das erste Keimen einer neuen Fruchtbarkeit in un- serer Liebe, fühlten, wie unsere Liebe sich einen schaffenden Willen erschuf - in dieser Nacht
hast Du gewusst, wo Deine Ehe ist - kennst Du, was Nietzsche sagt: "den Willen zu Zweien, das zu schaffen, was höher ist als die es schufen - eine gute Ehe heisse ich diesen Willen" [7] ? Kinder und Thaten : höher, unbegrenzt höher hinauf, aus einem Glauben an das Steigen und Neugestalten als ewig Treibendes tief innerstes Lebensprinzip - aus diesem Glauben der Deiner und meiner ist.
3. Seit jener Nacht muss ich soviel daran zurück denken, wie ich damals in den Tropennächten auf Deck nach dem Himmel gesehen habe - da waren es doch immer dieselben grossen Stern- gebilde, nach denen ich hinausgestarrt habe - der Orion im Zenith, gerade über mir und meinem Schiff wie über allen Schiffen und allen Meeren, räthselhaft, hoch oben für sich, hoch über allen Richtungen und Zielen
und Wegen der Schiffe auf dem Meer, für alle fragenden Blicke das gleiche Symbol der Alles verklärenden Ewigkeit - und über dem Bug des Schiffes, stets vorne über der Richtung unserer, gerade unserer Fahrt das Kreuz des Südens, stets Richtung weisend gerade für unseren Weg, stets unveränderlich den richtigen Curs beleuchtend im unver- änderlich öden Meer -
Wie gut mir doch die Sterne die Zukunft vorausgesagt haben - mein Schicksal mit den Frauen, die ich liebe ! Seit jener letzten Nacht giltst Du mir von den Sternen für mich vorausbestimmt - Du Kreuz des Südens über meiner Fahrt - - Otto
1) Von O. G. geändert, vorher 4 2) Die vorstehenden vier Worte wurden von O. G. nachträglich in den Text eingefügt 3) Das vorstehende Wort wurde von O. G. nachträglich in den Text eingefügt 4) Die vorstehenden zwei Worte wurden von O.G. nachträglich in den Text eingefügt 5) Die beiden vorstehenden Worte wurden von O.G. nachträglich in den Text eingefügt 6) Das vorstehende Wort wurde von O.G. nachträglich in den Text eingefügt 7) Gross zitiert Nietzsche's "Also sprach Zarathustra". Dort heißt es in "Von Kind und Ehe": "Ehe: so heiße ich den Willen zu zweien, das Eine zu schaffen, das mehr ist, als die es schufen. Ehrfurcht voreinander nenne ich Ehe als vor den Wollenden eines solchen Willens". (zit. nach: Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. München. Goldmann 1958, S. 55). "Zarathustra" gehörte zum gemeinsamen Lesestoff in den Flitterwochen des Ehepaars Frieda und Otto Gross (vgl. Brief von Frieda Gross an Else Jaffé vom 14. Februar 1903). Frieda Gross könnte mit dem Denken Nietzsches bereits früher durch ihren Onkel Alois "Lusso" Riehl bekannt gemacht worden sein, der mehrere Werke über N. veröffentlichte: "Nietzsche, der Künstler und der Denker" (1. Aufl. 1897, 8. Aufl 1923), eine Sammlung von Vorträgen (1902 erstmals erschienen) und eine Rede über "Schopenhauer und Nietzsche zur Frage des Pessimismus" (Dank an Rolf Löchel, Marburg, für die Informationen zum Werk von Alois Riehl.)
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