observations
Jüdische Ärztinnen und Ärzte in Magdeburg – Wie sie wurden, was sie waren
(Geringfügig bearbeitete Fassung eines Referats, gehalten am 20. November 2024 anläßlich des Erinnerung- und Gedenktages „Ermordung der Familienmitglieder Schlein 1944“ an der Berufsbildenden Schule (BbS) „Dr. Otto Schlein“ in Magdeburg)
Im Judentum ist Krankheit eine Prüfung Gottes, folglich ist Gott der Arzt, in dessen Macht die Heilung liegt. In späterer Zeit haben Menschen – seinem Willen folgend, vor allem Rabbiner, die oft zugleich Ärzte waren –, Grundsätze über Hygiene, die Ernährung, aber auch den Geschlechtsverkehr entwickelt. Die Ärzte handelten also in den jüdischen Gemeinden, die Formen der Selbstorganisation sind, ganz und gar in göttlichem Auftrag, sind Erfüllungsgehilfen göttlichen Willens und besitzen einen besonderen Status von Gottesnähe, der auch darin zum Ausdruck kommt, dass ihr Beruf als einziger auf jüdischen Grabsteinen genannt wird.
Das Tikkun Olam – hebräisch: Reparatur der Welt – und die Zedaka – hebräisch: Gerechtigkeit, Wohltätigkeit – sind die beiden Gebote, die das Leben jüdischer Menschen nachhaltig bestimmen.
Tikkun Olam beruht auf der Überzeugung, dass die Menschheit und die Welt auseinanderfelen, als Adam im Paradies gegen Gott sündigte, und dass es in der Verantwortung der Menschen liegt, sich für die Wiederherstellung und Verbesserung der Welt einzusetzen. Zedaka ist keine freiwillige Handlung und bleibt nicht dem Ermessen des Einzelnen überlassen. Sie ist eine universelle Pficht des Menschen ganz unabhängig von seinem sozialen Status.
Aufgabe der jüdischen Arzte war in erster Linie die Behandlung von Juden, da diese die Vorschriften über rituelle Reinheit beachten mußten. Judenärzte genossen auch bei Christen Vertrauen und zählten schon im Mittelalter Kaiser und Päpste zu ihren Patienten.
1678 erfolgte die erste Zulassung jüdischer Studenten an einer deutschen Universität, 1721 wurde einem Juden an einer deutschen Universität die Promotion gestattet. Für Juden wurde von den medizinischen Fakultäten ein spezieller Doktoreid eingeführt, andere Grade konnten Juden zunächst wegen der christlichen Eidesformeln nicht erwerben.
Wer seinen Sohn – und es waren natürlich erst einmal die Söhne – an die Universität senden wollte, mußte ihn zunächst Latein lernen lassen und dann – solange die deutschen Universitäten Juden verschlossen blieben - die erheblichen Kosten für ein Auslandsstudium, z.B. in Italien (in Neapel, Bologna, Pisa, Padua, Pavia und Perugia) aufbringen.
Die Voraussetzung für ein Medizinstudium war damals wie heute das Abitur. Und dieser Zugang zu Gymnasien war Frauen zunächst verwehrt. Erst im Jahr 1893 wurden erstmals in Deutschland Gymnasialkurse für Frauen angeboten.
In Preußen wurden Frauen ab 1896 als Gasthörerinnen zugelassen. Bereits 1895 studierten 40 Frauen in Berlin und 31 in Göttingen. Insgesamt erwies sich das Gasthörerinnen-Zugangsrecht der Frauen als wesentliche Verbesserung der Rechtsstellung, denn seither konnten Frauen in Preußen auch promovieren.
1896 lässt die Universität Halle erstmals Frauen als Gasthörerinnen zum Medizinstudium zu. Im Jahr 1901 studieren dort bereits 12 Frauen. Ein Bundesratsbeschluss war 1899 die Grundlage dafür, dass Frauen Zugang zu allen deutschen Universitäten bekamen. Am 3. März 1905 wurde Martha Kannegießer als erste Frau von der Heidelberger Medizinischen Fakultät „summa cum laude“ promoviert. 1908 wurde den Frauen das Studium in Preußen allgemein erlaubt. Im Jahre 1913 waren etwa 8 % aller Studierenden weiblichen Geschlechts. Bis 1930 stieg dieser Anteil auf etwa 16 %.
- Dr. med. Gertrud Nachmann (1883-1936), Studium in Berlin, 1915 Promotion in Berlin
- Dr. med. Erika Rosenthal-Deussen (1894-1959), Studium in Kiel und Erlangen, 1921 Promotion in Erlangen
- Dr. med. Gertrud Sophie Goldschmidt (1897-1985), Studium in Berlin, Tübingen und Freiburg, 1923 Promotion in Berlin
- Dr. med. Ilse Jarosch (1897-1959), Studium in Leipzig und Göttingen, 1923 Promotion in Leipzig
- Dr. med. Fanni Waldstein (1895-1940), Studium in Berlin, 1924 Promotion in Berlin
- Dr. med. Anne Wilmersdoerffer (1906-1998), Studium in Würzburg, 1930 Promotion in Würzburg
- Dr. med. Rosa Freudmann (1896-1971), Studium in Wien, 1932 Promotion in Berlin
Welche jüdischen Ärztinnen und Ärzte gab es in Magdeburg?
Hier sind die Namen: Aufrecht (2) Boehm Bregmann Bron Doctor Frankenstein Freudmann Friede (2) Friedeberg Fürst Goldberg Goldschmidt (2) Goldstein Greiffenberg Grosz Hirsch Jarosch Kahn Karger Klestadt Landau Lehfeldt (2) Lennhoff Lewin Liffgens Lippstädt Loewe Löwenthal Mendel Moosbach Moser Nachmann Neuberg (2) Nussbaum Philippson Pincus Rosenheim Rosenthal (4) Rosenthal-Deussen Saenger Schattmann Schlein Seelenfreund Seligsohn Silberstein Simon Sonnenfeld Steiner Steinhardt Stensch Uffenheimer Waldeck Waldstein Wiesenthal (3) Wilmersdoerffer Winter Wolff
Zurück zu den Anfängen ...
Als erster Arzt jüdischen Glaubens in Magdeburg mag der am 26. Juli 1807 in Dessau geborene Phoebus Moses Philippson (1807-1870) gelten. Er war der Sohn des jüdischen Lehrers, Schriftstellers und Verlegers Moses Philippson und Bruder von Dr. phil. Ludwig Philippson, Prediger und Lehrer der Magdeburger Gemeinde und 1839 zum Rabbiner ernannt. Phoebus Moses Philippson erhielt von der jüdischen Gemeinde Dessaus ein Stipendium für ein Medizinstudium in Halle. Nach der Promotion arbeitete er ab 1829 als Praktischer Arzt in Magdeburg, ab Anfang der 1860er Jahre Arzt in Klötze.
Größere Popularität erlangen zwei andere Ärzte:
Der Oberstabsarzt Dr. med. Hermann (Heinemann) Rosenthal, 1825 in Ermsleben geboren, leistet 1850 und 1855 im Verlauf größerer Cholera-Epidemien in Magdeburg Dienst in der Cholerastation des Militärlazaretts. Er wird 1869 Mitbegründer des Vereins für öffentliche Gesundheitspfege und erreicht ein sachgerechtes Eingreifen bei der Choleraepidemie 1873. Von 1881 bis 1904 Mitglied der Stadtverordnetenversammlung, setzt sich für die „baulichen Umwälzungen Magdeburgs“, besonders die Beseitigung übermässig hoher Hintergebäude „in kleinen, engen Höfen, in denen die Luft stagnire und das Sonnenlicht nicht eindringe“ ein, wie für die Gewinnung bakterienfreien Wassers für die Bewohner der Stadt und die Etablierung von – den hygienischen Ansprüchen genügenden – Volksbädern.
Die Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts waren für Magdeburg eine Zeit des Aufbruchs. Die Stadt, geprägt von Militär (Hauptquartier des IV. Armee-Korps) und Industrie entwickelt sich schnell zu einer der größten Städte Deutschlands mit 300.000 Einwohnern. Schon 1886 hatte man Neustadt-Magdeburg eingemeindet. 1887 folgte die Eingemeindung Buckaus mit seinen Maschinenbau- und Armaturenfabriken.
Das dort ansässige Grusonwerk der Krupp AG fertigte Panzer, die Polte-Werke in Sudenburg, waren der größte Fabrikant von Munition in Deutschland, das Messgeräte- und Armaturenwerk Schäffer & Budenberg, die Armaturenfabrik von C. Louis Strube und die Maschinenfabrik R. Wolf AG, die Anker, Zahnkupplungen, Zahnräder und Radsätze fertigte, begründeten die Tradition Magdeburgs als Stadt des Maschinenbaus.
Schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts erfolgt ein Zustrom weniger begüterter Menschen aus Polen, aber auch aus Teilen Schlesiens (Versailler Vertrag), die sich überwiegend im Knattergebirge niederlassen. Die wirtschaftliche Entwicklung Magdeburgs wird wesentlich von jüdischen Geschäftsleuten und Unternehmern mitgeprägt. Anfang der 1930er Jahre gibt es in Magdeburg mehr als 400 Geschäfte und Gewerbebetriebe in judischen Besitz, die vor allem im Zentrum der Stadt angesiedelt sind.
Magdeburg wird unter Oberbürgermeister Hermann Beims (1919-1931) und Ernst Reuter (1931-1933) zum Zentrum des Neuen Bauens. Von 1921 bis 1924 ist Bruno Taut Baustadtrat und es entstehen moderne Wohnviertel in den Vorstädten wie die Beimssiedlung im Stadtteil Stadtfeld West und die Gartenstadt Reform. In der Stadt herrscht Wohnungsnot und so entwickeln sich auf der Basis von Tauts Generalsiedlungsplan unzählige Kommunal- und Siedlungsbauten wie die Hermann-Beims-Siedlung.
Auf dem Gebiet der Wohlfahrtspfege verdient die Berufung von Dr. med. Paul Ignatz Konitzer (1894-1947) besondere Aufmerksamkeit. 1926 zum Leitenden Fürsorgearzt in Magdeburg berufen und 1928 Stadtrat, Stadtmedizinalrat und Dezernent fur Wohlfahrtspfege ist seine Dienstzeit vom Bemühen geprägt, soziale Grundsätze im Gesundheitswesen durchzusetzen. Dazu zählte er besonders
- die Anstellung von Schul- und Fürsorgeärzten sowie Schulzahnärzten, die Verbesserung des Gesundheitszustands der Jugend und
- die Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit und der Tuberkulose.
Konitzer setzt sich für die grundlegende Modernisierung der Magdeburger Krankenhäuser ein, initiiert den Bau eines chirurgischen Pavillons und der Hautklinik in Magdeburg-Sudenburg. Seiner Initiative ist die Organisierung der Gesundheitsdeputation zu verdanken, eine aus Magistratsmitgliedern, Stadtverordneten und kompetenten Bürgern bestehende Form der Selbstorganisation, die zu allen Fragen der Gesundheitspfege und Prophylaxe Stellung nahm.
Konitzer erreicht die Einführung von kostenlosen Beratungsstellen unter spezialärztlicher Leitung in den Krankenhäusern, u.a. Sprachstörungs-, Schwerhörigen-, Alkoholiker- Sexual- und Eheberatungsstellen. 1929 legt er Pläne zur Demokratisierung des Gesundheitswesens vor und ist Berater des Deutschen Städtetages. In seiner Dienstzeit werden Schlusselpositionen des Gesundheitswesens mit Arztinnen und Arzten judischer Herkunft besetzt, die sich auf ihren Fachgebieten besondere Verdienste erworben haben.
1933 wird Konitzer entlassen, inhaftiert und und der jüdischen Abstammung verdächtigt.
Der „Reichsmedizinalkalender“ weist für 1933 370 in Magdeburg tätige Ärztinnen und Ärzte aus, davon sind 55 jüdischer Herkunft (14,86 %). Das entspricht in etwa dem Landesdurchschnitt. Das Durchschnittsalter der Ärztinnen und Ärzte jüdischer Herkunft lag zu dieser Zeit bei etwas mehr als 45 Jahren (45,78). Sie standen also im besten Berufsalter und konnten auf eine erfolgreiche Fortsetzung ihrer Tätigkeit hoffen. Allein elf besetzen Schlusselpositionen im Öffentlichen Gesundheitswesen. Weiter besonders auffällig: der hohe Anteil von Fachärzten fur Dermatologie. Von den 23 Dermatologen in der Stadt waren 8 Juden (Doctor, Lennhoff, Liffgens, Neuberg, Schattmann, Schlein, Steinhardt, Waldeck), das sind 34,8 %. Auch ihr Anteil an den Kinderärzten war disproportional hoch (Hirsch, Moosbach, Rosenthal, Uffenheimer).
Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 hatte Auswirkungen insbesondere auf die judischen Arztinnen und Arzte, die in kommunalen, staatlichen und universitären Einrichtungen des Gesundheitswesens beschäftigt waren. Es bestimmte, dass Beamte „nichtarischer“ Abstammung und Beamte, die „nach ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten“, aus dem Dienst entfernt werden konnten.
Ausnahmen galten auf Drängen von Reichspräsident Hindenburg zunächst für jüdische Beamte, die bereits vor 1914 Beamte gewesen waren, während des Ersten Weltkrieges an der Front gekämpft hatten bzw. deren Väter oder Söhne während des Krieges gefallen waren. Jüdische Mediziner wurden jedoch nicht nur auf der Grundlage des „Arierparagrafen“ (§ 3), sondern auch mit der Begründung der politischen Unzuverlässigkeit (§ 4) oder der „Vereinfachung der Verwaltung“ bzw. „im Interesse des Dienstes“ (§ 6) entlassen. Die letztgenannten Gründe dienten auch als Vorwand, jüdische Ärzte aus dem Dienst zu entfernen, denen aufgrund ihres Status als „Frontkämpfer“ oder ihrer langjährigen Dienstzeit eigentlich nicht hätte gekündigt werden können.
- Dr. med. Ludwig Elieser Bregmann, Stadtarzt, Leiter der Eheberatungsstelle, Vorstand der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Ärzte (kündigte 1933)
- Dr. med. Hans Friede (Facharzt für Neurologie und Psychiatrie), Volontärarzt an der Städtischen Nervenklinik des Krankenhauses Magdeburg-Sudenburg
- Prof. Dr. med. Max Walther Fürst (Facharzt für Frauenheilkunde, Röntgenologie und Strahlenheilkunde), Direktor der Röntgenabteilung der Städtischen Krankenhäuser
- Dr. med. (Karl) Heinz Goldschmidt, Stadtarzt u. Stadt-Medizinalrat, Leiter der Abteilung II, Bezirks-Gesundheitsdienst, Hygienische Jugendfürsorge, Erholungsfürsorge, Orts- und Wohlfahrtshygiene (stellte Juli 1933 Antrag auf pensionslose Entlassung)
- Prof. Dr. med. Walter Dagobert Klestadt (Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde), Direktor der HNO-Klinik in Magdeburg, Dozent an der Akademie für ärztliche Fortbildung und soziale Medizin, Entdecker der „Klestadt-Zysten“ (fehlbildungsbedingte schleimgefüllte Zysten im harten Gaumen)
- Dr. Salomon Walter Landau (Facharzt für Innere Medizin und Lungenkrankheiten), Leitender Arzt der städtischen Tuberkulosefürsorgestelle, Leitender Oberarzt des Städtischen Erholungsheimes Zwischenwerk 4 (stellte August 1933 Antrag auf sofortige pensionslose Entlassung)
- Prof. Dr. med. Carl Lennhoff (Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten), Direktor der Städtischen Hautklinik
- Dr. med. Heinz Moosbach (Praktischer Arzt und Facharzt für Kinderheilkunde), Stadtarzt, Fürsorgearzt in der Tuberkulosefürsorgestelle, zuständig für gesundheitliche Bezirks- und Wohnungsfürsorge
- Prof. Dr. med. Werner Rosenthal (Praktischer Arzt und Facharzt für Bakteriologie und Pathologie), Privatdozent in Göttingen, Entdecker der „Rosenthal-Fasern“ (wurmförmige Einschlüsse, Merkmal einer genetisch bedingten Störung, bei der eine fortschreitende Degeneration der Weißen Substanz von Gehirn und Rückenmark auftritt)
- Dr. med. Erika Rosenthal-Deussen, Leiterin der Gewerbeaufsicht im Bez. IV Magdeburg
- Prof. Dr. med. Albert Maurus Uffenheimer (Facharzt für Kinderheilkunde), Direktor der Kinderklinik des städtischen Krankenhauses Magdeburg-Altstadt, dem die Kultivierung des „Bacillus aerophilus agilis“ - eine spezifsche Bakterienart – gelang
Die Ärztinnen und Ärzte hatten allesamt einen wesentlichen Beitrag zur Existenz eines vorbildlichen Gesundheitssystem geleistet – und wurden um die Früchte ihrer Arbeit gebracht.
Doch das war nur der Anfang ...
Mit der Verordnung des Reichsarbeitsministeriums vom 22. April 1933 wurde die „Tätigkeit von Kassenärzten nicht arischer Abstammung sowie von Kassenärzten, die sich im kommunistischen Sinne betätigt haben“, für beendet erklärt. Durch die „Vierte Verordnung zum Reichsburgergesetz“ vom 25. Juli 1938 wird das Erlöschen der Approbationen aller jüdischen Arzte zum 30. September 1938 angeordnet. Von den 1938 noch praktizierenden mehr als 3.000 jüdischen Ärzten in Deutschland durften fortan nur 709 mit widerruficher Genehmigung als „Krankenbehandler“ weiterarbeiten. Der Reichsmedizinalkalender von 1937 verzeichnet für Magdeburg 371 Ärztinnen und Ärzte insgesamt, davon 30 jüdischer Herkunft (8,08 %). Die Gesamtzahl ist also sogar angestiegen, der Anteil jüdischer Ärzte wurde halbiert.
Der Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten Dr. Otto Joseph Schlein, seine Ehefrau Anni und die Tochter Vera-Judith werden jüdische Opfer der Nazidiktatur und fnden den gewaltsamen Tod wie der Praktische Arzt und Sanitätsrat Dr. David Lippstädt und seine Schwester Betty, der Praktische Arzt und Sanitätsrat Dr. Rudolf Raphael Loewenthal und seine Frau Laura Wilhelmine, der Praktische Arzt Dr. Georg Moser und seine Frau Elvira Susetta und der Wundarzt und Geburtshelfer Dr. Julius Winter und seine Frau Martha.
Zu weiteren Opfern zählen der Praktische Arzt und Geburtshelfer Dr. Erich Böhm und seine Schwestern Elly und Margarethe – Böhm selbst kann nach Schanghai entfiehen und kommt dort um, seine Schwestern in Treblinka –, der Hautarzt Dr. Waldemar Jakob Steinhardt, der wie sein Sohn nach der Flucht aus Deutschland in der Sowjetunion verschollen ist und der Facharzt für Innere Medizin Dr. Hans Aufrecht, dessen Frau Ilse von der SS erschossen und der selbst nach seiner Befreiung 1945 von Sowjetsoldaten getötet wird.
Für all diese Menschen wurden in Magdeburg Stolpersteine verlegt.
Dr. Julius Kahn stirbt am 1. April 1939. Als Todesursache wird „Krebsgeschwulst im Auge“ angegeben. Tatsächlich dürfte der Tod „infolge schwerer Mißhandlung im KZ Buchenwald“ eingetreten sein, wie die VdN-Dienststelle Magdeburg am 11. Januar 1946 zu Protokoll gibt.
Dr. Gertrud Nachmann wechselt im Februar 1929 als Assistenzärztin an das Hygienisch- Bakteriologische Institut des städtischen Krankenhauses Magdeburg-Sudenburg, wo sie bis zum 1. Januar 1930 tätig ist. Der Aufgabe ihrer dortigen Tätigkeit gehen Differenzen voraus. So beklagt sich N. sich gegenüber männlichen Kollegen zurückgesetzt zu fühlen. Demgegenüber wird ihr bescheinigt, sich nicht bewährt zu haben und die Kündigung empfohlen – die sie auch einreicht. Deren Rücknahme – nachdem sie keine anderweitige Anstellung findet – stimmt die Stadt nicht zu. Ab 1930 ist sie in Schmiedeberg im Riesengebirge tätig, kehrt aber 1931 nach Magdeburg zurück, wo sie in der Großen Diesdorfer Str. 24 als Kassenärztin tätig wird. Am 28. Dezember 1936 zeigt der Bote David Zelichower an, dass sie ihrer Wohnung tot aufgefunden worden sei.
Flucht und Neuanfang
Als Beispiel mag hier Dr. Leopold Liffgens gelten: Als sogenannter „Frontkämpfer“ kann er bis zum Entzug der Approbation am 30. September 1938 praktizieren, am 10. November 1938 gerät er in „Schutzhaft“ und wird aus dem KZ Buchenwald (Gefangenennummer II/47) nach eigenen Angaben nur unter der Bedingung entlassen, dass er mit seiner Familie innerhalb von 14 Tagen Deutschland verlässt. In aller Eile regelt die Familie ihre Angelegenheiten, das Wohnungsinventar muss verschleudert werden, die Judenvermögenabgabe von insgesamt 110.250 RM, sowie die Reichsfluchtsteuer von 88.791 RM sind zu entrichten, für die Mitnahme von Umzugsgut werden beim Spediteur weitere 2.144 RM fällig. Am 7. März 1939 verlässt die Familie die Stadt und gelangt über Hamburg und Bremerhaven schließlich mit der SS „Hansa“ nach New York. Liffgens gelingt es vor der Abreise 220.000 RM in die USA zu transferieren – wo er nach der Ankunft den Gegenwert von 10.111,47 RM in US-Dollar erhält. Liffgens versucht – der Sprache und Gesetze unkundig – in den USA einen Neuanfang und wird am 15. Januar 1945 amerikanischer Staatsbürger. Erst am 28. Juni 1945 kann er das State Board Exam absolvieren und als angestellter Arzt tätig werden, im Februar 1956 geht er, nun 67 Jahre alt, in den Ruhestand. Er stirbt am 10. Oktober 1972 in New York.
Rückkehr
1992 besucht Stephen Moorbath, eigentlich Stefan Moosbach, 2016 verstorben, der Sohn von Dr. Heinz Moosbach, seinen Geburtsort Magdeburg:
“Ich hatte in Magdeburg das außergewöhnlichste Abenteuer. Ich kam in Magdeburg an, war dreiundsechzig Jahre lang nicht dort gewesen [1939 hatte er mit dem Vater Deutschland verlassen können, Anm. R.D.] und verließ den Bahnhof - ich hatte ein Hotel am Bahnhof gebucht - und schaute hinaus und da war die Straßenbahn Linie 1 an ihrer Endstation vor dem Bahnhof und ich sah darauf Neustadt, einen großen Vorort von Magdeburg, und ich erinnere mich, dass die Straßenbahn Linie 1 1939 vom Bahnhof nach Neustadt fuhr. Also stieg ich in diese Straßenbahn und wusste, dass sie an unserem Wohnort vorbeifahren würde, also sagte ich zum Nicolaiplatz, bezahlte das Fahrgeld und stieg ein und erinnerte mich an jede einzelne Haltestelle, es sind ungefähr drei Meilen, schätze ich, und ich stieg aus und ich war einfach erstaunt, als ich die Straße überquerte und sah, dass unser altes Haus [Nikolaiplatz 7, Anm. R.D.] immer noch stand, komplett, in der gleichen Farbe, alles.
Also stand ich da und schaute es mir an, und plötzlich kam eine Frau aus der Haustür und sagte: „Wir warten auf dich“, und ich dachte, das ist verdammt surrealistisch: „Wir warten auf dich, komm doch rein.“ „Wir sind alle hier“, und sie – sie dachte, ich sei der Redner, der vor einem Publikum sprechen sollte, das sich im Haus versammelt hatte, weil das Haus jetzt, sechzig Jahre später, ein Zentrum für Erwachsenenbildung war und ich schaute mich um, um zu sehen, ob ich bei dem richtigen Haus war. Ich sagte: „Nun, ich bin nicht ihr Sprecher, aber ich habe hier vor sechzig oder mehr Jahren gelebt.“ „Oh“, sagte sie, „kommen Sie herein, kommen Sie herein und und trinken Sie oben eine Tasse Tee“. Also ging ich nach oben, wo es Tische und Erfrischungen gab und die Leute, die auf den Dozenten warteten, nebenan waren, und der Raum, in dem ich mich befand, war unser altes Wohnzimmer und Musikzimmer, ein großes Haus, und der Boden hatte noch den Parkettboden und in der Ecke stand ein alter, hundert, zweihundert Jahre alter Kachelofen, der nach dreiundsechzig Jahren immer noch da war, der Raum war mir absolut vertraut, außer dass nun Tische und Erfrischungen da waren. Also kam die Frau und sagte: „Oh, nimm ein paar Erfrischungen“ und wir kamen ins Gespräch und schließlich kamen die Leute nach der Vorlesung aus dem Raum und aßen und ich wurde in alle möglichen Gespräche durch die Frau hineingezogen, die sagte „Oh, er hat früher hier gelebt“ und so ... Es war ein sehr seltsamer, surrealistischer Abend, an dem ich gefragt wurde, wer ich bin, warum ich dort lebe und alles mögliche, eine völlig andere Welt, aber dasselbe Haus. So freundete ich mich mit einigen dieser Menschen an, allesamt natürlich Deutsche, sehr berührend, eigentlich bewegend.“
Schlussbemerkung
Mehr als eine Generation von Ärztinnen und Ärzten jüdischer Herkunft hat ihre berufliche Schaffenskraft mit Herzblut in die Entwicklung des Magdeburger Gesundheitswesens investiert und ein Paradigmenwechsel ist zu beobachten: die Energie, die Generationen jüdischer Menschen in Vorzeiten in die Entwicklung der eigenen Gemeinden gelegt haben, haben sie aufgebracht, um einem Land zur Blüte zu verhelfen, das sie als das ihre betrachteten – nicht selten unter Hintanstellung ihrer religiösen Vorsätze. Sie sind um die Früchte ihrer Arbeit gebracht worden, mussten schweres Leid ertragen und dieses Land – und damit auch die Stadt Magdeburg – hat einen unwiderbringlichen Verlust erlitten.
Mehr muss nicht gesagt werden!
Literatur (Auswahl)
- Abrahams-Sprod, Michael E.: „Und dann warst du auf einmal ausgestoßen!" Die Magdeburger Juden während der NS-Herrschaft. Halle (Saale): Mitteldt. Verl., 2011
- Czerwinski, Filomena: Die Entwicklung des Gesundheits- und Sozialwesens der Stadt Magdeburg 1870-1918. Magdeburg, Med. Akad., Inst. für Sozialhygiene, Diss., 1964
- Försterling, Susanne: Die rassistische anti-jüdische Politik des NS-Regimes und ihre Auswirkungen auf die jüdischen Ärzte in der Stadt Magdeburg, dargestellt am Beispiel der Ärzte Dr. Otto Schlein, Dr. Gyula Grosz und Dr. Carl Lennhoff. Wissenschaftliche Hausarbeit zur Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien. Magdeburg, 1993
- Gagelmann, Karola: Die Rolle von Magistrat und Stadtverordnetenversammlung bei der Gesundheits- und Wohnungspolitik in Magdeburg zwischen 1890 und 1914. Magdeburg, Päd. Hochschule “Erich Weinert“, Diss., 1991
- Greif, Gideon, Colin McPherson & Laurence Weinbaum (Hrsg.): Die Jeckes. Deutsche Juden aus Israel erzählen. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2000
- Hanauer, Wilhelm: Die jüdische Wohlfahrtspflege in Deutschland. In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. Jg. 69. 1913, S. 716-736
- Jarosch, Erika: Die jüdische Ärzteschaft vom Mittelalter bis zur vollständigen Vernichtung 1945. 2000
- Martini, Tania: Wider alle Widerstände. In: taz, 20. Juli 2024, S. 41
- Raute, Michael: Jude - venia entzogen 1934. Leipzig: Leipziger Universitätsverl., 2014
- Richarz, Monika: Der Eintritt der Juden in die akademischen Berufe. Tübingen: Mohr, 1974
- Scherbel, Simon: Jüdische Ärzte und ihr Einfluß auf das Judentum. Berlin, Leipzig: Singer, 1905
- Rupieper, Hermann-J. & Alexander Sperk: Die Lageberichte der Geheimen Staatspolizei zur Provinz Sachsen 1933-1936. Bd. 1: Regierungsbezirk Magdeburg. Halle: Mitteldeutscher Verl., 2003
- Spanier, Moritz: Geschichte der Juden in Magdeburg. Magdeburg: Sperling, 1923
- Details
Verfolgt wegen „Rassenschande“: Das Menschlichste des Menschlichen wird zum Straftatbestand - Magdeburger Schicksale
Am 15. September 1935 erließ der Reichstag in Nürnberg während des 7. Reichsparteitags das "Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" (www.1000dokumente.de/), auch als „Blutschutzgesetz“ bezeichnet, das fortan unter dem Propagandabegriff der „Rassenschande“ als Delikt die Beziehungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen diskriminierte und unter Strafe stellte. So untersagte das Gesetz die Eheschließung zwischen Jüdinnen und Juden und "Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes" und sah bei Zuwiderhandlungen Zuchthausstrafen vor. Auch der außereheliche Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nichtjuden wurde unter Strafe gestellt. Jüdinnen und Juden wurde es zudem untersagt, „weibliche Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes unter 45 Jahren“ in ihren Haushalten zu beschäftigen.
Zwischen 1935 und 1945 wurden insgesamt rund 15.000 Ermittlungsverfahren wegen „Rassenschande“ - überwiegend nach Denunziationen von Nachbarn - eingeleitet und 2.211 Männer verurteilt. Doch auch Frauen wurden bestraft, etwa mit sogenannter Schutzhaft, Ausbürgerung und Deportation. Erst am 25. August 1998 wurden die Urteile aufgehoben, die aufgrund des „Blutschutzgesetzes“ verhängt wurden.
Hintergrund Seit der Einführung der Zivilehe im Jahr 1875 war die Anzahl gemischt heiratender Juden in Deutschland beträchtlich gewachsen und von 1901 bis 1932 um das Dreifache angestiegen. Allerdings blieb umstritten, ob die „Mischehe“ als Assimilation (wie von Richard Dehmel, Alfred Ploetz und Heinrich von Treitschke postuliert), oder als „Verunreinigung des nordischen Menschen“ (wie von Eugen Dühring und Werner Sombart befürchtet) anzusehen sei. Als schärfste Propagandisten der „Sünde wider das Blut“ gelten Houston Stewart Chamberlain und Artur Dinter. Dinters 1918 erschienener gleichnamiger Roman erzielte innerhalb von zehn Jahren eine Auflage von mehr als 250.000 Exemplaren. Auch der Einsatz „farbiger“ Soldaten im Zuge der Besetzung des Rheinlandes durch französische Truppen nach dem Ersten Weltkrieg gab der Diskussion über die Bedrohung der Deutschen durch externe Fremde neue Nahrung. Weit vor der Verkündung des „Blutschutzgesetzes“ kam es in deutschen Städten zu öffentlichen Anprangerungen einzelner jüdischer Männer oder „deutsch-jüdischer“ Paare. In „Prangerumzügen“ oder „Prangerfesten“ wurden kahlgeschorene Delinquenten in prozessionsartigen Demonstrationszügen durch die Stadt geführt, die Juden wurden gezwungen, „Narrenkappen“ mit der Aufschrift „Rassenschänder“ zu tragen. Alexandra Przyrembel konstatiert fünf Bedeutungsebenen dieser Umzüge: Sie verfolgten 1. das Ziel, „deutsch-jüdische“ Beziehungen zu ächten und ein gesetzliches Verbot der Ehen und Liebesverhältnisse durchzusetzen, sie prägten 2. das Bild vom männlichen jüdischen „Rassenschänder“ und der von ihm verführten „deutschblütigen“ Frau, sie trugen 3. als Moment antisemitischer Gewalt zur Dehumanisierung des Einzelnen im öffentlichen Raum bei, sie waren 4. öffentliches Spektakel, mit dem breitere Bevölkerungsschichten in den Stigmatisierungsprozess eingebunden wurden und ermöglichten 5. das Ausleben von Freude an der Gewalt. (Vgl. Przyrembel, Alexandra: Rassenschande. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2003, S. 70-71) |
Einige der im Rahmen der Forschungen der städtischen AG „Stolpersteine für Magdeburg" ermittelten Schicksale Betroffener werden im Folgenden dargestellt:
David Apter, Vertreter für Weingroßhandlungen, lernt 1912 in Magdeburg die Schneiderin Elisabeth Auguste Graun kennen. Seine Bemühungen, sich von seiner Ehefrau Johanna scheiden zu lassen, scheitern. Als sie 1932 stirbt und Elisabeth Graun 1935 aus der evangelischen Kirche austritt, ist es für eine Eheschließung zwischen beiden zu spät: das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre („Blutschutzgesetz“), verbietet Eheschließungen zwischen „Deutschblütigen“ und Juden und stellt außereheliche Beziehungen zwischen ihnen als „Rassenschande“ unter Strafe. Am 28. Oktober 1938 wird David Apter eines der Opfer der so genannten „Polenaktion“. Am 27. Juli 1939 erhält er die Erlaubnis zur Rückkehr nach Magdeburg, um seine Geschäfte zu regeln. Allerdings wird er am 9. September 1939 verhaftet und in die Heilanstalt Jerichow, Krs. Genthin, eingeliefert. Dort stirbt er am 29. Februar 1940.
www.magdeburg.de/
Der Kaufmann Markus Augenreich, Vater eines unehelichen Kindes, wird 1935 wegen „Rassenschande“ verfolgt und flieht nach Polen. Wie seine Schwester Rosa, die am 14. April 1942 von Magdeburg aus in das Ghetto Warschau deportiert wird, gilt er als verschollen. www.magdeburg.de/
Dr. med. Erich Böhm wird am 8. Juli 1938 in Magdeburg inhaftiert. Am 26. August 1938 kommt es zur Eröffnung eines Strafverfahrens gegen ihn vor der großen Strafkammer des Landgerichts IV. Ihm wird vom Staatsanwalt vorgeworfen, mit Lilly Rothe, „einer Staatsangehörigen deutschen Blutes” außerehelich verkehrt und sie in seinem Haushalt beschäftigt zu haben, was nach Inkrafttreten der Rassegesetze als strafbar gilt. Dr. Erich Böhm steht zu seiner Freundin. In den Gerichtsunterlagen heißt es: „... Die Kraft, sich zu lösen, habe er nicht gefunden ...“. Am 4. Oktober 1938 wird er zu zwei Jahren Zuchthaus wegen „Rassenschande“ verurteilt. Er verbüßt die Strafe vom 4. Oktober 1938 bis zum 4. August 1940 (2 Monate Untersuchungshaft werden ihm angerechnet) im Zuchthaus Coswig. Seine Bestallung als Arzt erlischt am 13. Oktober 1938. Er erhält ein Visum nach Shanghai, wo er am 24. November 1943 stirbt. www.magdeburg.de/
Albert Hirschland, Diplomkaufmann und Handelslehrer, wird am 28. April 1935 verhaftet und Zielscheibe eine der übelsten, deutschlandweit verbreiteten Hetz- und Schmutzkampagnen des berüchtigten Nazi-Blattes „Der Stürmer“ gegen einen Juden. Nach einem zweitägigen Prozess wird Albert Hirschland am 19. Juni 1935 „wegen Sittlichkeitsverbrechen in 5 Fällen zu einer Gesamtzuchthausstrafe von 10 Jahren und zu 10 Jahren Ehrverlust verurteilt. Außerdem wird Sicherheitsverwahrung ausgesprochen“. Die Zuchthausstrafe verbüsst er zunächst im Zuchthaus Brandenburg, aber schon bald verbringt man ihn zur sogenannten „Sicherheitsverwahrung“ in das KZ Auschwitz, wo er am 18. Februar 1943 ermordet wird. www.magdeburg.de/
Auch Max Katzmann und seine nichtjüdische Partnerin Margarethe Ballerstein sind von den Nürnberger Gesetzen betroffen. Sie emigrieren im Dezember 1935 nach Riga und heiraten dort. Als das Baltikum infolge des Hitler-Stalin-Paktes an die Sowjetunion fällt und die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion überfällt, gelten sie als feindliche Ausländer. Wie viele andere Deutsche werden sie 1941 in ein Arbeitslager nach Sibirien transportiert, ab 1943 sind sie in Karaganda in Kasachstan. Margarethe Katzmann berichtet später, sie sei dort als Sekretärin und Pflegerin eingesetzt worden. Sie kehrt als Witwe 1947 nach Deutschland zurück, Max Katzmann ist in Sibirien oder Kasachstan verstorben. www.magdeburg.de/
Erich Petzall, nach der Schule und verschiedenen Beschäftigungen und Ausbildungen im kaufmännischen Bereich von 1912 bis 1920 in den USA, ist er ab 1922 einer der Prokuristen des Magdeburger Kaufhauses „Gebrüder Barasch“. Als Anfang Dezember 1935 die Magdeburger Staatspolizei den Hinweis erhält, dass mehrere leitende männliche Mitarbeiter des Kaufhauses „schwerwiegende moralische Unanständigkeiten“ gegenüber weiblichen Angestellten begangen hätten, gehört er zusammen mit dem Personalchef Julius Fischel, Isidor Gans, Rudolf Friedländer und dem Hotelier August Oehm zu den Verhafteten. Auch der in der Seidenabteilung des Hauses beschäftigte Werner Heymann gerät in Schwierigkeiten. Alle involvierten männlichen Angestellten des Kaufhauses sind Juden, alle benannten vermeintlichen Opfer nichtjüdische Frauen. Erich Petzall wird unter dem Vorwurf der „Rassenschande“ angeklagt, aber - wie Rudolf Friedländer - freigesprochen, 1936 verlässt er Deutschland und emigriert in die USA. Julius Fischl wird zu vier Jahren Gefängnis, Isidor Gans zu einem Jahr und August Oehm zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt. Am 12. Dezember 1935 wird die Schließung des Kaufhauses angeordnet und der Eigentümer Hermann Broder von der Polizei darüber informiert, dass er das Geschäft am 14. Dezember wiedereröffnen könne, sofern alle leitenden Angestellten einschließlich der Beschuldigten durch „arisches“ Personal ersetzt werden. Hermann Broder kommt dieser Aufforderung nach. Das Kaufhaus wird von einem Konkursverwalter und NSDAP-Mitglied übernommen, 1936 kauft es der nichtjüdische Kaufmann W. Lemke aus Kolberg. www.magdeburg.de/
Gegen Walter Windmüller, Vertretungsreisender für Radiogeräte und ab 1932 in Magdeburg, ermittelt im Juni 1936 die Polizei wegen „Rassenschande“, denn er lebt mit einer nichtjüdischen Arbeiterin zusammen. Ihre Absicht zu heiraten zerschlägt sich nach Inkrafttreten der Nürnberger Rassengesetze. Die beiden trennen sich und die Ermittlungen werden mit einer Verwarnung eingestellt. Im November 1937 wird er wegen ausbleibender Unterhaltszahlungen zu einer sechswöchigen Haftstrafe verurteilt, bald darauf im Rahmen der so genannten „Aktion Arbeitsscheu Reich“ in polizeiliche Vorbeugehaft genommen und in das KZ Sachsenhausen überstellt. 1942 kommt er in das KZ Auschwitz III. Am 21. September 1943 wird er dort - nach schweren Misshandlungen - erschossen.
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Letzte Hoffnung Shanghai: Die Flucht jüdischer Magdeburger in die Drachenkopf-Metropole
Nachdem die Internationale Konferenz von Évian im Juli 1938, die die Aufnahme von Flüchtlingen regeln sollte, ergebnislos endete, verblieb Shanghai für viele der einzige Ort weltweit, der ohne Quotierung noch Flüchtlinge aufnahm.
Die Stadt war zwar seit 1937 japanisches Besatzungsgebiet, doch es gab Stadtgebiete, die der japanischen Herrschaft nicht unterstanden. Da die chinesische Nationalregierung weiterregierte und bis 1941 auch von Deutschland diplomatisch anerkannt war, stellten ihre Konsulate weiterhin Visa für ganz China aus, so auch für Shanghai.
Mehr als 20.000 deutschen und österreichischen Juden gelang es so nach den Novemberpogromen 1938, sich für die Ausreise chinesische Visa zu beschaffen - was vielfach auch die einzige Möglichkeit war, aus dem Konzentrationslager entlassen zu werden - und nach China zu entkommen.
In Shanghai ergaben sich Möglichkeiten, sich Arbeit zu suchen und unter äußerst kärglichen Bedingungen das Dasein zu fristen. Allerdings drängte die NS-Regierung Japan, die Juden in Shanghai in Lagern zu konzentrieren und auszuliefern. So wurde am 18. Februar 1943 eine so genannte „Designated Area“ im Stadtteil Hongkou geschaffen, in die sämtliche jüdischen Flüchtlinge umzusiedeln hatten, die nach 1937 nach Shanghai gekommen waren.
Zum Kriegsende mussten die Flüchtlinge bis September 1945 auf ihre Befreiung warten, während sich ihre Lebensbedingungen aufgrund anhaltend unzureichender Lebensmittelversorgung und grassierender Epidemien dramatisch verschlechterten.
Im Rahmen seiner langjährigen Arbeit als Vorsitzender der Merseburger Geschichtswerkstatt hatte Peter Wetzel, aktuell Mitglied der städtischen Arbeitsgruppe „Stolpersteine für Magdeburg“, Kontakt zu chinesischen Studierenden an der Fachhochschule Merseburg. Die Flucht jüdischer Menschen angesichts massiver Verfolgung unter dem NS-Regime aus Merseburg nach Shanghai war ein berührendes Thema des gemeinsamen Gedankenaustausches. Nach der Rückkehr in die Heimat lösten die Studierenden das Versprechen ein, die heute in Shanghai noch sichtbaren Spuren des Aufenthalts jüdischer Flüchtlinge und deren zeitweiliger Ghettoisierung fotografisch zu dokumentieren.
Die vorliegende Fotodokumentation ist uns Anlass, an die jüdischen Mitbürger Magdeburgs zu erinnern, die - soweit bekannt - nach Shanghai flüchteten.
Schicksale
Fritz Bernhardt entstammt einer Magdeburger Kaufmannsfamilie, sein Vater Georg war Inhaber einer Großhandlung für Seidenband-, Weiß-, Putz- und Wollwaren. 1941 wird die Familie zwangsweise in der Judenhaus Westendstr. 9 eingewiesen, Georg Bernhardt nach Theresienstadt deportiert, wo der 80-Jährige schon 10 Tage nach seiner Ankunft am 28. November 1942 stirbt. Fritz Bernhardt, im 1. Weltkrieg Soldat und dem „Reichsbund jüdischer Frontkämpfer“ angehörend, ist Kaufmann in der väterlichen Großhandlung. Ihm gelingt die Flucht nach Shanghai, wo er an Flecktyphus erkrankt und an den Folgen der Krankheit am 4. April 1942 verstirbt. www.magdeburg.de/
Dr. med. Erich Böhm, Militärarzt im 1. Weltkrieg, lebt seit 1921 als Praktischer Arzt in Magdeburg - zusammen mit seinen unverheirateten Schwestern Margarete und Elly. Die Beziehung Böhms zu der Hauswirtschafterin Lilly Rothe führt am 8. Juni 1938 zu seiner Inhaftierung und zur Eröffnung eines Strafverfahrens wegen Rassenschande. Böhm wird zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt, die er im Zuchthaus Coswig absitzt, seine Approbation als Arzt erlischt am 13. Oktober 1938. Am 4. August 1940 entlassen, kann Böhm nach Shanghais ausreisen, wo er am 24. November 1943 stirbt. Margarethe und Elly Böhm werden am 13./14. April 1942 in das Ghetto Warschau und von dort in das Vernichtungslager Treblinka deportiert. www.magdeburg.de/
Edith Clara Crohn, geb. Haas, und der Bankkaufmann Paul Crohn wohnen in Magdeburg östlich der Elbe, Oststraße 6. Paul Crohn ist in der Firma seines Schwiegervaters, einem Eisen-, Metall- und Maschinenhandel, tätig. Die Eheleute haben zwei Söhne, Ernst Erich und Moritz, und engagieren sich für die zionistische Idee und die Sozialdemokratie. Während der Sohn Ernst Erich 1936 nach Palästina flüchten kann, wird Paul Crohn am 10. November 1938 in Berlin verhaftet und in das KZ Sachsenhausen verschleppt. Nach seiner Freilassung gelingt es den Eltern, den Sohn Moritz bei einem Kindertransport nach England unter zu bringen, sie selbst können mit dem Schiff „Marburg“ nach Shanghai entkommen. Dort stirbt Edith Clara Crohn am 24. Dezember 1941 an Unterernährung und fehlender medizinischer Versorgung, Paul Crohn, der nach dem 18. Februar 1943 auf Befehl der japanischen Besatzungsmacht in das Ghetto von Shanghai umziehen muss, am 8. Januar 1945. www.magdeburg.de/
Meta Friedmann eröffnet 1911 in Magdeburg mit einer Freundin die Firma „Friedmann & Koch, Kurz-, Putz- und Weißwaren“. 1919 heiratet sie Markus Pels, Großhändler für Leder und Lederabfälle, später Generalvertreter für Schuhwaren, zwei Kinder, Manfred und Estella, kommen zur Welt. Am 10. November 1938 wird Markus Pels verhaftet und in das KZ Buchenwald deportiert. Er kann freikommen und der Ehefrau, deren Eltern und Schwestern sowie der Tochter nach Italien folgen, von wo sie nach Shanghai gelangen. Meta Pels stirbt dort am 5. November 1942, im Mai 1943 müssen die verbleibenden Familienangehörigen in das Ghetto umziehen. 1947 gelingt ihnen die Ausreise in die USA, wo der Sohn inzwischen lebt. www.magdeburg.de/
Dem Kaufmann Alexander Safian und seiner Ehefrau Margarethe, geb. Schild, gelingt 1939 die Ausreise von Magdeburg und die Flucht nach Shanghai, wo Margarethe Safian am Vorabend ihres 56. Geburtstages am 14. Juni 1942 stirbt, Alexander Safian am 11. Januar 1947 mit 72 Jahren. www.magdeburg.de/
Die einzelnen, hier kurzgefasst dargestellten Schicksale sind in den zu den Betroffenen vorliegenden Gedenkblättern der AG „Stolpersteine für Magdeburg“ ausführlich dokumentiert: www.magdeburg.de/Stolpersteine/
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Magnet Magdeburg - Wie die Elbestadt Auswanderungsziel galizischer Juden wurde
oder
Der andauernde Verlust - Wie der Elbmetropole die Kreativität der galizischen Juden verloren ging
Referat gehalten am 29. November 2023 im Programm der „Festtage der jüdischen Kultur anlässlich der Eröffnung der Neuen Synagoge“ in Magdeburg im Forum Gestaltung
Übersicht
- Einleitung
- Kolomea - Ort des Aufbruchs
- Galizien als Teil der Habsburgermonarchie
- Judenfeindliche Gerüchte, antisemitische Hetze und Pogrome gehörten im Kronland zur Tagesordnung
- Ende und Aufbruch - Wohin?
- Das Magdeburger Recht – ein Positivum bei der Wahl des Auswanderungsziels?
- Magnet Magdeburg
- „Ostjuden“ - immer ein Thema
- Wie endeten galizische Juden aus Magdeburg?
- Welche Exilländer konnten erreicht werden?
- Magdeburger Juden im Kibbuz
- Schlussbemerkung
- Verwendete Literatur
- Internetquellen
Die Inspiration zu diesem Vortrag verdanke ich Frau Waltraut Zachhuber, Herrn Norbert Pohlmann herzlichen Dank für die Unterstützung und freundliche Aufnahme im Forum Gestaltung.
Ich bin - wenn Sie so wollen - einer fixen Idee gefolgt: im Verlauf der Recherchen für die AG „Stolpersteine für Magdeburg“, der ich angehöre, fiel der beträchtliche Anteil von Menschen jüdischer Herkunft, die aus Galizien stammen, auf. Im „Regelfall“ beziehen sich die biografischen Daten, die von uns ermittelt werden, auf das zeitweilige Leben in Magdeburg, nicht aber auf das Leben der Menschen in der ursprünglichen Heimat.
Was brachten sie mit, als sie nach Magdeburg kamen, welchen religiös-politischen Ansichten hingen sie an? Was waren die Gründe, ausgerechnet Magdeburg als „neue Heimat“ zu wählen? Und: Wie organisierten sich die aus Galizien stammenden Juden in Magdeburg selbst? Wie war ihr Verhältnis zur angestammten Bevölkerung jüdischer Herkunft vor Ort, wie schließlich ihr Schicksal im Verlauf nationalsozialistischer Verfolgung, ihr mögliches Überleben?
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Weiterlesen: Magnet Magdeburg - Wie die Elbestadt Auswanderungsziel galizischer Juden wurde
„... die Juden versuchen … sich Vorteile zu verschaffen“ - Magdeburger Gerichtsvollzieher im Einsatz
- Vorbemerkung
- Fachliche Schulung und Fortbildung, Veruntreuungen, Verfehlungen und „Heranziehung der Gerichtsvollzieher als Sachverständige durch die Devisenstellen"
- Die „Prüfung von Umzugsgütern der Insassen des Landwerks Steckelsdorf bei Rathenow"
- Der Fall Schaue ...
- ... und auch Odemar fällt
- „Abwanderungstransport" nach Auschwitz
- Nachspiel: Schaues letzte „Amtshandlungen" und Enthüllungen über Odemar
- Danksagung
- Addendum: Gesetzgebung, Verordnungen und Erlasse im Nationalsozialismus
Es erscheint uns im zeitlichen Abstand schwer vorstellbar, dass das NS-Regime bei seinem Raub- und Mordzug gegen Menschen jüdischer Herkunft akribisch bemüht war, in den Jahren 1933 bis 1941 einen Rechtsrahmen zu liefern, der seine Übergriffe legalisierte. War erst einmal der Anfang gemacht und die Jüdin/der Jude als „Volksschädling“ ausgemacht und in Gesetzen und Verordnungen zu etwas Besonderem deklariert, fiel es leicht gegen sie und ihn legal vorzugehen, flankiert durch die Maßnahmen auf der „Straße“, wo sich anfangs die SA, später auch andere austobten.
Am Beispiel des dienstlichen Verhaltens der Magdeburger Gerichtsvollzieher Otto Odemar und Fritz Schaue möchte ich aufzeigen, wie rassistische Ideologie und Maßnahmen den Dienstalltag durchdrangen und schließlich fast naturgemäß die Bereitschaft forcierten, nicht nur dem Staat das Seine bestmöglich zu verschaffen, sondern auch sich selbst zugleich entlang über weite Strecken großzügig bemessener Handlungsspielräume schadlos zu halten.
Dabei werde ich nur am Rande von so genannten „Juden“-Auktionen berichten, für deren Durchführung Gerichtsvollzieher eine Provision erhielten, oder über Maßnahmen, die in Folge der so genannten „Aktion 3“ und der Deportationen 1941 erfolgten. Dies bleibt einer weiteren Arbeit - wie auch die Fortschreibung der vorliegenden - vorbehalten.
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Spurensicherung: Egon Kuhn und die Geschichte(n) einer Identität
- Vorbemerkung
- Zusammenfassender Bericht zum AM "Egon"
- Nicht unbemerkt unter "Operativer Personenkontrolle" - Von Anschleusungen, GMS "Nelke" und einem weissen Lada
- Legenden, kaum Arbeiter, eine fiktive Adresse und plötzlich Schluss
- Schlussbemerkung
- Fußnoten
Der 28. April 2022 soll ein Festtag in Hannover-Linden werden: das Stadtteilarchiv zur Geschichte Lindens möchte sein 35-jähriges Jubiläum feiern - und dabei nicht zuletzt an seinen Gründer, den früheren Leiter des Freizeitheims in der Windheimstraße, Egon Kuhn, der 2019 verstarb, erinnern. Er habe, so heisst es in einem Bericht von Jonny Peter in der rührigen Stadtteilpostille "Lindenspiegel" (Ausgabe 4/2022, S. 3) in "den 1980er Jahren (...) seine zahlreichen Kontakte und Netzwerke nutzen und zusammen mit Studierenden und MitarbeiterInnen wichtige Bereiche der Lindener Arbeiterbewegung und des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus aufarbeiten" können. Jüngst hat gar ein Verein "Egon Kuhn Geschichtswerkstatt im Freizeitheim Linden" e.V. die Arbeit aufgenommen, der die mit Geldern der öffentlichen Hand erworbenen Dokumente und Fotos, Devotionalien wie Fahnen und Banner der Arbeiterbewegung, eine Bildsammlung des Arbeiterfotografen Walter Ballhause und anderes nun unter seine Fittiche genommen hat. Ob die vom Verein geplanten Jubiläums-Aktvitäten auch eine Würdigung des Veteranen Egon Kuhn umfassen werden, ist unklar, aber anzunehmen. Ich möchte es mir nicht nehmen lassen, einige biographische Details Egon Kuhns vorzulegen.
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Spuren der NS-Verfolgung - in Hannover
Eine äußerst eindrucksvolle Ausstellung präsentiert derzeit das Museum August Kestner in Hannover. Sie trägt den Titel "Spuren der NS-Verfolgung", startete am 6. Dezember und wird noch bis zum 16. Juni 2019 zu sehen sein.
Anlass der Ausstellung ist der zwanzigste Jahrestag der so genannten "Washingtoner Erklärung" vom 3. Dezember 1998, die auch von der Bundesrepublik Deutschland mitgetragen wird und die zum Inhalt hat, während der NS-Herrschaft beschlagnahmte Kulturgüter zu identifizieren, deren Eigentümer bzw. Erben ausfindig zu machen und mit ihnen eine "gerechte und faire Lösung zu finden". Auf diesen Hintergrund macht einiges Filmmaterial aufmerksam, das den Besuchern der Ausstellung zugänglich gemacht wird. In einer Filmsequenz ist der US-Beauftragte Stuart E. Eisenstat zu sehen, der zu Recht auf die bedeutende Rolle der "Monuments Men" (inzwischen auch durch den gleichnamigen Film bekannt, der auch im Rahmen des Ausstellungsprogramm gezeigt werden wird) bei der Sicherung von Raubgut aufmerksam macht, als auch auf die lange Phase der relativen Untätigkeit auf diesem Feld hinweist.
Wenn man so will, ist die Ausstellung die Präsentation eines Zwischenergebnisses der Recherchen nach geraubten Kulturgütern im Besitz der Stadt Hannover, die im Rahmen eines Begleitprogramms, zu dem Vorträge, Führungen, Podiumsgespräch, Lesungen und Filmvorführungen gehören, vertieft werden soll.
Auf den ersten Blick leidet die Ausstellung ein wenig unter den Umbaumaßnahmen im Inneren des Hauses, beim zweiten Hinsehen erschließt sich dem Besucher, dass die vergitterten Gerüste bewusst eingesetzt werden, um die beklemmende Lebenssituation der seinerzeit Verfolgten zu simulieren.
Das Frappierende an der Ausstellung dürfte vor allem in der Dokumentation des Nebeneinanders von legaler und illegaler Ausplünderung der Mitbürger jüdischen Glaubens und von Anpassung und Widerstand zu sehen sein. Die Vertreibung aus dem Beruf, die Bereichung des Regimes durch die so genannte "Judenvermögensabgabe" von mehr als einer Milliarde Reichsmark, die Einführung der Reichsfluchtsteuer wie die staatliche Zwangsarisierung werden in der Ausstellung thematisiert und an einer Reihe von Beispielen verdeutlicht, aber auch die auf dem Boden systematischer Entrechtung sich vollziehende Bereicherung durch Teile der Bevölkerung der Stadt.
Zwei Schicksale stehen zu Recht im Zentrum der Ausstellung:
Da ist zum einen das der Klara Berliner, Eigentümerin der "Villa Simon" in Hannovers Brühlstraße ( zukunft-heisst-erinnern.de/), Tochter des Gründers der Deutschen Grammophon, Joseph Berliner. Sie nahm zahlreiche jüdische Familien in ihr Haus auf, die aus ihren Wohnungen vertrieben worden waren. Infolge des am 30. April 1939 erlassenen "Gesetzes über Mietverhältnisse mit Juden" wurden nach dem 1. Juni 1939 vom Wohnungsamt der Stadt eine Reihe weiterer jüdischer Familien und Einzelpersonen in das Haus zwangseingewiesen. Schließlich wurde sie gezwungen, Haus und Grundstück an die Stadt Hannover zu verkaufen, die Bewohner mussten ausziehen. Klara Berliner wurde im März 1943 von Hannover in das Ghetto Theresienstadt deportiert und dort ermordet. Aus ihrem Besitz ist in der Ausstellung ein wertvoller Rokokoschrank zu besichtigen, den sich die Stadt Hannover aneignete.
Vom Großburgwedeler Arzt Dr. med. Albert David befinden sich Teile seiner Münzsammlung in der Ausstellung, die sich im Bestand des Museums August Kestner fanden. Bei einer Heimsuchung durch die Gestapo am 19. Mai 1940 hatte sich der jüdische Mediziner vergiftet. Bereits bei der Eröffnung des Testaments galt die Münzsammlung als nicht auffindbar.
Zu den Exponaten der Ausstellung gehören etliche Bücher, die sich in den Beständen von Stadtbibliothek und Stadtarchiv fanden, darunter ein Exemplar von Friedrich Engels' Schrift "Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates", das im Zuge ihrer Verhaftung 1933 bei der Studentin Hannah Vogt beschlagnahmt wurde. In der Nazizeit zunächst Aktivistin des Internationalen Sozialisten Kampfbundes um Leonhard Nelson, später Mitglied der KPD, gehörte Vogt zu den ersten weiblichen "Schutzhäftlingen" im Konzentrationslager Moringen (www.gedenkstaette-moringen.de/).
Es gehört zu den Vorzügen der Ausstellung, dass die biographiebezogenen Exponate jeweils mit den Arbeitsansätzen für eine Restitution verbunden werden. So heisst es bei dem Buch aus dem Besitz von Hannah Vogt: "Zwei Familienangehörige konnten ausfindig gemacht werden. Eine Rückgabe des Buches ist vorgesehen." Im Falle von Klara Berliner wird darauf verwiesen, dass die Provenienzforschung der Landeshauptstadt Hannover derzeit Erben sucht, bei Dr. David wird gefragt, wer wohl einen Rechtanspruch auf die Goldmünzen hat? So werden die Museumsbesucher animiert, sich in den Prozess der Aufklärung und Restitution nach Kräften einzubringen, was durchaus empfehlenswert ist.
Weitere Informationen: Programm (pdf-Datei, 790 KB)
NS-Raubgut in der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek
Die Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek hat in der Zeit vom November 2008 bis zum Oktober 2010 nach NS-Raubgut in ihren Beständen geforscht. Als Ergebnis dieser Recherche ist seit einiger Zeit in einem Sonderregal im Lesesaal eine mit "Verdacht auf NS-RAUBGUT" bezeichnete Sammlung zu besichtigen und unter http://opac.tib.eu/DB=3.1/LNG=DU/ auch im OPAC der Bibliothek ausgewiesen.
Dazu gehören
- Bücher, die über das Finanzamt eintrafen (denen nach Verabschiedung der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz ab Oktober 1941 die "Verwertung" des Eigentums sämtlicher emigrierter und deportierter Juden oblag),
- Bücher, die über die Preußische Staatsbibliothek in Berlin verteilt wurden (die durch Erlass des Preußischen Finanzministers vom 28. März 1934 zur "Zentralstelle" für beschlagnahmtes, so genanntes schädliches und unerwünschtes Schrifttum fungierte und diese Literatur an die Universitätsbibliotheken abgab) und
- Bücher aus Straßburg (Elsass) und Metz (Lothringen), insgesamt 135 Titel, bei denen nicht abschließend geklärt werden konnte, auf welchem Weg sie in die hannoversche Bibliothek gelangten.
Aktuell umfasst die Sondersammlung 374 Titel.
Weitere Informationen: NS-Raubgut in der Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek (pdf-Datei, 2,1 MB)
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Franz Jungs Beerdigung
"Übrigens war ich damals dabei, als Franz Jung auf dem Waldfriedhof bei Stuttgart beigesetzt wurde. Es war eine makabre Szene: Im gemessenen Abstand stapfte bei klirrender Kälte ein Mann auf dem Friedhof auf und ab und störte die Beisetzung, die kurioser Weise von einem katholischen Priester vorgenommen wurde. An Franz Jung erinnere ich mich noch sehr gut, er hat mich damals, als er seine Autobiographie schrieb, in Marbach besucht." (Paul Raabe, Brief vom 5. Januar 2000)
"Am 16. Januar bekam Jung hohes Fieber und wurde auf Artur Müllers Veranlassung als Privatpatient in das Stuttgarter Karl-Olga-Krankenhaus gebracht. Dort traf ihn ein Gehirnschlag. Er war teilweise gelähmt, konnte selber nicht mehr lesen, ließ sich aber vorlesen. Als Jung am 21. Januar 1963 um 1 Uhr mittags einem Herzinfarkt erlag - laut Eintrag handelte es sich um 'Gallenblasen-Carcinom mit Lebermetastasen, Herzinfarkt, Encephalomalacie' - hatte er, gestärkt durch die Sterbesakramente, mit dem Leben hier in Frieden abgeschlossen. 'Auf seinem Gesicht lag ein mildes, verstehendes Lächeln.' Am 25. Februar 1963 wurde Franz Jung auf dem Neuen Friedhof in Stuttgart-Degerloch beigesetzt. Paul Raabe vom Schiller-Nationalmuseum in Marbach, dessen lebhaftes persönliches Engagement für die Expressionisten und den Expressionismus Jung schätzte, hat die Stunde in einem Brief an Cläre Jung aufgerufen:
"Jung, ein ehemaliger Korpsstudent, das Gesicht voller Schmisse, die Augen vom Trinken und von nicht geschlafenen Nächten entzündet, Anarchist und Katholik, ich sah ihn in der Messe knien, entschlossen in die Hölle zu gehen, weil es eine gibt [...], war ein rührender Helfer, wenn man Hilfe nötig hatte und ein niederträchtiger Zerstörer. wenn man keine brauchte. Ein Mensch ohne Furcht, weil er alles Materielle verachtete und nicht benötigte." (Ernst Josef Aufricht: Erzähle, damit du dein Recht erweist, 1966, S. 129)
Literatur
- Barthel, Max: Blockhaus an der Wolga. Berlin: Der Freidenker Verl.-Ges. 1930 (Jungs Schiffsentführung, S. 47f., Jung als kleiner "Napolium", der kein Wort herausbringt)
- Behrendt, Friedel: Eine Frau in zwei Welten. Berlin: Verl. der Nation 1963 (Autobiographie einer Kommunistin, die 1945 endet; schildert kurz die Schiffsentführung Jungs, S. 68)
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Gustav Landauer und Margarethe Faas-Hardegger
"Noch ein paar Worte zum Umfeld. Landauer ist also auf Einladung eines gewissen Mark Harda in die Schweiz für eine Vortragstournée gekommen. Mark Harda entpuppt sich als junge, hübsche und politisch sehr engagierte Frau. Die beiden verlieben sich ineinander. (Das sagt zwar niemand so in unseren Quellen, dünkt mich aber mehr als offensichtlich). Nun hat Landauer ein Problem. Anscheinend hat er Margrit gesagt (versprochen?), dass er 'alles' seiner Frau Hedwig Lachmann erzählen will, schiebt dies aber ständig auf.
Brief Nr. 9
Donnerstag, gegen Mitternacht
Du liebe Margret! ich kann so gut arbeiten; ich habe das zweite Stück des Vortrags eben in diesen Abendstunden geschrieben, und ich danke es Dir. Ich glaube, es wird gut; aber ich sehe, es wird lang; unter zwei Stunden thu ich's, scheints, auch nicht für die Lesenden. Bald schreib' ich's Dir ab.
Aber ich habe noch immer keinen Brief von Dir, und ich lebe in grosser Sehnsucht.
Du! ich schreibe das so gesetzt, so verhalten. Weisst Du denn aber, wie ich mich beherrschen kann? Wie mir's das Leben beigebracht hat? Weisst Du, wie es eigentlich hinter meiner Ruhe kocht und stürmt? und wie ich es eigentlich, in meinem wahren Wesen, gar nicht aushalte, so von Dir getrannt zu sein? Weisst Du, dass das alles gar nicht so recht ich bin, der da so fortlebt und der da arbeitet? Er schreibt, und ich bin bei Dir. Wie wahr und gut hast du das jüngst gesagt, wie es in der Seele weiterarbeitet, wenn auch der Leib andern Dingen nachgeht. Nur dies Arbeiten in den Nachtstunden ist was Rechtes: ich bin bei dir und schreibe mit dir. Und dann der Schlaf, wo mir ein Traumleben aufgeht, die nicht seit langem. Ich bin da jetzt immer bei dir, fleischlich in absonderlichen Gestalten, wie sich's für den Traum gehört. Vorgestern hab' ich von Dr. Brubpacher (sic!) geträumt; erst von einem dicken, wissenschaftlichen Werk von ihm, in dem ich ganze Seiten las: es war gegen den 'Unsinn der Liebe' gerichtet. Dann erfuhr ich wieder, er sei aus Liebeseifersucht nicht in die Züricher Versammlung gekommen. -
Gestern war eine Gerichtsverhandlung gegen mich: es wurde mir nachgewiesen, der Knochen, den ich an dem schönen Bergsee unterhalb des Faulhorns gefunden habe (er ist einer meiner Talismane aus der Zeit mit dir: neben einer Sicherheitsnadel, einem kleinen Tüchlein, und einem Kiesel vom Rorschacher Ufer), dieser Knochen sei kein Kuhknochen, sondern vom Fuss eines schönen Mädchens, und ich verteidigte mich: ja, es sei wirklich der Knochen eines schönen Mädchens, aber das sei kein Beweis, dass ich sie ermordet habe. Und dann wache ich immer einen Augenblick auf und fühle zu dir hin.
Margrit, ich will morgen einen Brief von dir finden.
Freitag. Aber ich habe ihn nicht gefunden ..." (Regula Bochsler, Mail vom 16. Februar 2000)
"hoffentlich ist der 'zunft' bekannt, daß faas-hardegger und landauer doch sehr üppig und inniglich verliebt waren und daß im 2bändigen briefband landauer von 1927 doch ausführlich gross und nohl etc. erwähnt werden - fragt zaghaft ein türeeintreter.
mir hat einmal pinkus erzählt, wie er den nachlaß von faas-hardegger in pappkisten geborgen hat, da sie im tessin standen und zum teil nicht so recht unterm dach war viel von wasser und mäusen zerstört ---" (Hansjörg Viesel, Mail vom 18. Januar 2003)
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Czernowitz 1919
In der Zeitschrift “Der Nerv” (Jg. 1, 1919, Nr. 1, Jänner, S. 16, in: Wichner, Ernest & Herbert Wiesner: Der Nerv. Eine expressionistische Zeitschrift aus Czernowitz. Berlin: Literaturhaus, 1997, S. 33) findet sich unter den “Antworten der Schriftleitung” folgende Anmerkung: "Art. K. Unsere Information: Das im ”Cz. M.” [d.i. das "Czernowitzer Morgenblatt"] gebrachte, von Georg Bittner gezeichnete Pamphlet: Die Wiener 'Rote Garde' ist aus dem Wiener 8 Uhr Blatt Nr. 1249 geschnitten. Die im zitierten Artikel gegen E. E. Kisch, Franz Blei und Franz Werfel erhobenen Anschuldigungen sind den Tatsachen nicht entsprechend. Die Wiener 'Rote Garde' wurde von einem Czernowitzer Medizinstudenten gegründet. Erst später übernahm Oblt. E. E. Kisch die Organisation. Franz Werfel hat der 'Roten Garde' überhaupt nicht angehört, Franz Blei ihr ferngestanden. Die Schießerei vor dem Parlament, deren Ursache auch heute noch nicht einwandfrei festgestellt wurde, sah nach unserem Gewährsmann ganz anders aus, als Artikelschreiber Bittner darstellt. Heute sind die erwähnten Schriftsteller der Angelpunkt des Jung-Wiener Literatenzirkels im Café 'Herrenhof', antipodisch dem monarchischen Kreise Hermann Bahrs im Café 'Kaiserhof'.”
Dazu merkt Hans Hautmann an: “Bei dem 'Czernowitzer Medizinstudenten' kann es sich nur um den Korporal Stephan Haller handeln, der eigentlich Bernhard Förster hieß. Egon Erwin Kisch nennt ihn in seiner Erinnerungen 'Kriegspropaganda und ihr Widerspiel' als denjenigen, der den eigentlichen Anstoß zur Bildung der 'Roten Garde' gab, bei einer Versammlung am 30. Oktober 1918 unter freiem Himmel. Der Satz: 'Erst später übernahm Oblt. E. E. Kisch die Organisation' ist sehr relativ zu nehmen, denn es handelte sich nur um ein, zwei Tage später, dann gemeinsam mit dem am 1. November 1918 aus der Haft im Wiener Landesgericht entlassenen Leo Rothziegel. Über Haller ist nur sehr wenig bekannt. Der bald schon in die Volkswehr eingegliederten 'Roten Garde' gehörte er nicht mehr an. Eine Erklärung geht dahin, dass er als 'wohnhaft in Czernowitz' vom Wiener Polizeipräsidenten Schober noch vor den Ereignissen des 12. November 1918 vor dem Parlament aus Österreich ausgewiesen wurde." (Mail vom 18. Januar 2007)
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Johannes Nohl
Der Nachlass von Johannes Nohl steht InteressentInnen in der Akademie der Künste in Berlin zur Verfügung. Adresse: Robert-Koch-Platz 10, Berlin-Mitte, in der Nähe der Charité. Öffnungszeiten: täglich montags - freitags 09.00-17.00 Uhr, donnerstags bis 19.00.
Details zum Nachlassbestand:
Johannes Nohl, Schriftsteller, 1882-1963
Dora Wentscher, Schriftstellerin, bildende Künstlerin, 1883-1964
Archiv und Bibliothek
5,5 lfm., 309 Bde.
Werkmanuskripte von Johannes Nohl, vor allem literaturgeschichtliche Arbeiten, u.a. zu Karl Philipp Moritz und Jean Paul, kunstgeschichtliche Studien zur Malerfamilie Tischbein, autobiographische Aufzeichnungen; Werkmanuskripte von Dora Wentscher, darunter autobiographische Prosa über die Zeit im sowjetischen Exil, publizistische und literarische Texte über Heinrich von Kleist, ein Hörspiel, editorische Unterlagen, Materialsammlungen; Korrespondenz mit Familienangehörigen, Schriftstellerkollegen und Freunden, u.a. mit Johannes R. Becher, Klara Blum, Auguste Lazar und Nico Rost; Geschäftskorrespondenz; persönliche Unterlagen, Tagebücher und Photos; Manuskripte fremder Autoren; bildkünstlerische Arbeiten, z.T. von Dora Wentscher. Bibliothek: Primärliteratur von Dora Wentscher, zahlreiche Exemplare mit Anstreichungen, Widmungsexemplare; Belletristik, Sachliteratur zu Geschichte und Kunstgeschichte.
Nohl befand sich bei Otto Gross in Analyse und war lange eng mit Erich Mühsam befreundet. Albrecht Götz v. Olenhusen berichtete in seinem Referat auf dem 1. Internationalen Otto Gross Kongress, dass Nohl Hermann Hesse analytisch behandelte. In der DDR war Nohl u.a. bis zu dessen Flucht in den Westen als Sekretär von Theodor Plivier und Schriftsteller tätig. In zweiter Ehe war er mit Dora Wentscher verheiratet, aus der ersten Ehe stammt der Sohn Friedrich August, der als Arzt in Schleching/Obb. tätig war, und die Tochter Ursula, spätere Berkel, deren Sohn Johann Peter, also der Enkel von Nohl, in Berlin lebt(e). Der Bruder, Herman(n), 7.10.1879 - 27.9.1960, lebte in Göttingen und gilt als bedeutender Pädagoge (vgl. Deutsche Biographie, www.deutsche-biographie.de/sfz72294.html)
Der Nachlass von Nohl ist stark dadurch dezimiert, dass fast seine gesamte Habe (besonders Briefe und Bibliothek) während des 2. Weltkriegs in Berlin durch Bombeneinwirkung vernichtet wurde. In seinem Nachlass befindet sich, wie wir feststellen konnten, eine Arbeit in der er sich mit Gross beschäftigt: Nohl, Johannes: Die kriminalistische Bedeutung der Psychoanalyse, in: Berliner Börsenkurier, Nr. 105 v. 2. März 1924, Beilage. Wenn ich mich richtig erinnere, hat auch Franz Jung für den Börsenkurier gearbeitet.
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Golo Mann und Hans Jaffé
Golo Mann berichtet in seinen "Erinnerungen und Gedanken. Eine Jugend in Deutschland" (Frankfurt/M. 1986) über seine Bekanntschaft mit Hans Jaffé, Sohn von Else und Edgar Jaffé. Er lernte ihn im Zug auf dem Weg ins Schulinternat Salem kennen und ging mit ihm dort zur Schule. Er besuchte ihn zuhause in Heidelberg und lernte die Mutter Else kennen. "Diese, Frau Else, war eine geborene von Richthofen, ihre Schwester die Witwe des Schriftstellers D. H. Lawrence, die in New Mexico lebte, und ich habe sie nie kennengelernt. Vor wenigen Jahren erschien in den USA ein Buch The Richthofen Sisters; nur aus ihm, spät, erfuhr ich so ganz, mit welch bedeutender Persönlichkeit ich es in Heidelberg zu tun gehabt hatte, wie solches mir öfters geschah. So viel wußte ich immerhin damals schon: sie war eng mit dem großen Max Weber befreundet gewesen, und war es nun mit dessen Bruder, Geheimrat Alfred Weber, von Haus aus Nationalökonom, während Max als Jurist begonnen hatt. Daß die Beziehung der beiden Brüder einen zärtlichen Hintergrund besaß, ahnte ich nicht, naiv wie ich in solchen Dingen war. Vor allem aber wirkte Frau Else als geistige Beraterin, als Diotima der beiden." (S. 282).
"Die Webers [gemeint sind Marianne und Max Weber] hatten eine Schwester gehabt, Gattin eines Architekten namens Schäfer, gefallen gleich zu Anfang des Krieges in Ostpreußen. Danach wurde Frau Schäfer Lehrerin in der Odenwaldschule, wo ihre drei Söhne auswuchsen. Sie nahm sich dort das Leben, weil der Leiter der Schule, Paul Geheeb, sie geliebt und dann verlassen hatte." (S. 282).
"Die nun elternlosen Söhne der Frau Schäfer wurden von Max Weber und seiner Frau Marianne, adoptiert, zumal das Ehepaar kinderlos war. Der Jüngste starb als Gymnasiast, den Ältesten kannte ich kaum, der in der Mitte, Max geheißen, ein schöner, etwas zur Schwermut neigender Mensch, wurde binnen kurzem ein naher Freund von mir. Viele Jahrzehnte später, kurz vor ihrem Tod, besuchte er die uralte, fast erblindete Frau Else Jaffé. Sie strich ihm durch das Haar, murmelnd: 'Noch einmal einen Weber-Schädel in der Hand zu haben!'" (S. 283)
Hans Jaffé studierte, so Golo Mann, in Göttingen Physik, wo Mann ihn mehrfach besuchte, später wohnte er zeitweise gleichfalls dort.
Tilman Lahme, der gegenwärtig in Göttingen eine historische Dissertation über Mann erarbeitet, teilt mit, daß Hans Jaffé später in die USA emigrierte "und [...] wohl als Physiker in Cleveland, Ohio tätig" war. "Etwa 1977 muß er gestorben sein." (Tilman Lahme, Mail vom 26. Juni 2004)
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... welch eine Flamme war verloht - Richard Oehring
(1) (Otto) Richard (Hermann) Oehring entstammt einer protestantischen Familie und wurde am 16. Juni 1891 in Düsseldorf als Sohn des Telegrafendirektors Alfred Oehring und seiner Frau Johanna Antoinette geboren. Mit 17 Jahren geht er zusammen mit Alfred Wolfenstein in dieselbe Klasse des Luisenstädtischen Gymnasiums in Berlin. 1909 Abitur. Er zählt zum Freundeskreis der Dichterin Henriette Hardenberg und ihres Bruders Hans. Er nimmt ein Studium in München auf und stößt zusammen mit seinem Bruder Fritz zum Kreis um Erich Mühsam und die Gruppe “Tat”, der auch Oskar Maria Graf, Franz Jung und Georg Schrimpf angehören. Zurück in Berlin schreibt er als Wirtschaftsjournalist Beiträge für “Buchwalds Börsenberichte”. Ab 1912 arbeitet er für die "Die Aktion" und veröffentlicht dort eigene lyrische Werke. Die Novelle “Der Käfig” entsteht. 1913/1914 gehört er zusammen mit Gottfried Benn, Paul Boldt, Alfred Lichtenstein, Franz Pfemfert und anderen zu den Protagonisten der Autorenabende der "Aktion".
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Eduard Schiemann - der “lange Russe” mit dem unfehlbaren System
1905 kommt Franziska Schiemann, geb. Beckmann, nach München. Die 43-jährige Witwe des Kaufmanns Eduard Schiemann sen. (gest. 1908) sieht in der bayerischen Hauptstadt womöglich für sich und ihren 19-jähriger Sohn die günstigsten Möglichkeiten für eine weitere Existenz. Schließlich lebt in München mit Agnes Schiemann eine Verwandte, hier bietet sich außerdem für den am 14. Mai 1885 im russischen Saratow geborenen Sohn, eine gute Gelegenheit, seine Studien fortzusetzen. Noch studiert er - der wie der Vater den Namen Eduard (Gustav) trägt - in Karlsruhe, aber schon im Februar 1906 zieht auch er nach München, bezieht mit der Mutter eine gemeinsame Wohnung in der Mandlstr. 1a/III, und will sein Studium an der Kunstakademie fortsetzen. Eduard Schiemann ist von auffallender Gestalt, schlank, gutaussehend und fast zwei Meter groß. Er wird recht schnell in der Münchener Bohème heimisch: Im Juli 1908 notiert Franziska Gräfin zu Reventlow in ihrem Tagebuch:
Die letzte Nacht bei Schiemann geschlafen, sassen Abends im Leopold Lisa u. ich ganz melancholisch, dass es nur Trennung u. kein Obdach mehr giebt. Sie zog mit Willy Müller ab, mich führte Sch. heimlich zu seiner Höhle, wo Bubi schon schlief. Zündhölzer vergessen u. mich etwas verzweifelt in der fremden dunklen Wohnung herumgetappt. Bett entsetzlich schmal, schliesslich mich auf den Boden gelegt, erst gegen Morgen etwas geschlafen. Früh mit Bubi gesentimentalt, es war uns doch etwas leid, im Sommer hat wenigstens das grosse Atelier seinen Reiz gehabt mit Vogelzwitschern u. Frühsonne. Und die Gewitter Nachts. Den Morgen ganz verkatert, noch die letzten Gänge gethan u. den Packern zugesehen. Nach Tisch zu Strahlendorff ausgeruht, Café getrunken, warmes Bad genommen. Abend Bubi u. ich zu Friess übergesiedelt. (Reventlow, Wir sehen uns ins Auge, das Leben und ich, S. 491)
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