Der "Vorwärts" kündigt in seiner Abendausgabe vom 15. Dezember 1919 einen Vortrag im Auditorium 101 der Berliner Universität an: Dr. Otto Groß wird "abends 8 Uhr" zum Thema "Zur Psychologie der Revolution" sprechen.
Eine Ankündigung, die verwundert, lassen die Aussagen von Zeitzeugen doch eher vermuten, dass Gross zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr in der Lage war, eine solche Aufgabe zu bewältigen. Er starb, wie wir wissen, bereits zwei Monate später, am 13. Februar 1920 um 5 Uhr früh, in der Scholinus'schen Privat-, Heil- und Pflegeanstalt in Pankow, nachdem Hans Walter Gruhle und andere den Sterbenden in Berlin in einem Durchgang zu einem Lagerhaus aufgefunden hatten.
Cläre Jung schildert, in welchem Zustand sie Gross erlebte, als er im Spätherbst 1919 nach Berlin kam:
"Im Oktober 1919 kam Dr. Otto Groß nach Berlin. Ich freute mich sehr, denn ich setzte große Hoffnung auf ihn. Alle unsere Freunde, die Groß kannten, hatten mir unendlich viel von ihm erzählt und schätzten ihn sehr. Aber der Groß, den ich nun kennen lernte, war ein kranker Mann. Zerstört durch Narkotika und geschwächt durch Anstrengungen, waren seine Kräfte verbraucht, er selbst deprimiert. Jung und ich versuchten, ihm zu helfen. Aber er setzte dem die größten Widerstände entgegen. Es kam vor, daß er Geld und Sachen, die man ihm gab, wieder verlor. Zu einer wirklichen Zusammenarbeit konnte es nicht kommen, da er häufig gar nicht aufnahmefähig war. Wir hatten gerade auf ihn sehr gesetzt, nachdem in der Wiener Zeitschrift 'Sowjet' sein Artikel 'Orientierung der Geistigen' erschienen war.
In den letzten Monaten seines Lebens versuchte Otto Groß festzuhalten, was ihm von seinem Werk wichtig schien. In einer Reihe von Artikeln, die in verschiedenen Zeitschriften erschienen sind, versuchte er, Anschluß an die revolutionäre Bewegung zu finden. Waren seine ersten Veröffentlichungen noch rein medizinisch-therapeutischer Natur, kämpfte er zu Beginn um Anerkennung von fachlicher Seite, so zeigte sich bald seine schöpferische Auslegung der Psychoanalyse. Den Unterschied hat einer der bekannten Freudschüler, Marcinowski, sehr schüchtern und vorsichtig etwa so formuliert: die Psychoanalytiker seien berufen, denen, die ihre Hilfe suchen, befreiende Weltanschauung finden zu helfen. Das war die Wegscheide. Von diesem Gedanken aus ist die Stellung von Groß in der psychoanalytischen Forschung zu betrachten. [...]
Otto Groß war zweifellos schon in dem Gefühl seines nahenden Endes nach Berlin gekommen. Er versuchte noch in seinen letzten Wochen niederzulegen, was er gewollt hatte. Aber seine Kraft reichte nicht mehr aus. Er versuchte, mir seine Arbeiten zu diktieren. Aber seine Gedankengänge wiederholten sich, die Sätze wurden unverständlich, und je länger die Arbeit dauerte, desto verworrener wurde alles. Soweit es in meinen Kräften stand, versuchte ich, ihn bei seinem Thema zu halten und Verständlichkeit seiner Arbeiten zu erreichen. Zuweilen folgte darauf ein Zusammenbruch, der in Selbstanklagen und Weinen endete. Es kam auch vor, daß Groß mitten in der Arbeit einschlief, wenn ihm seine Narkotika fehlten, von denen er völlig abhängig war und die ihn sehr quälten. Einmal sprach ich von den Hoffnungen, die ich an seine Zusammenarbeit mit uns geknüpft hatte, von der Freude, die ich empfunden hatte, als er zu uns kam, die glücklichen Erwartungen ...
Groß umarmte mich, glücklich, daß ein Mensch so an ihn glaubte. 'Das gibt mir wieder neuen Auftrieb', sagte er. Dann aber, mit dem Ausdruck der Verzweiflung: 'Ich kämpfe nur noch um mein Leben.'
Kurze Zeit darauf erkrankte er. Ich glaube, es war nur eine kleine Grippe, die ihn infolge einer Erkältung befallen hatte. Einige gute Freunde versuchten, ihm zu helfen. Man brachte ihn in ein Krankenhaus. Er sollte ein paar Tage gute Pflege haben. Aber er war am Ende. Es war nicht allein die Grippe, die Erschöpfungen, nicht allein die Entziehung der Narkotika und die Schwierigkeit seiner Ernährung im Krankenhaus - Groß war strenger Vegetarier und nahm nicht einmal Suppen aus Bouillonwürfeln zu sich - er wußte nicht mehr weiter. So starb er nach wenigen Tagen seines Krankenhausaufenthaltes im März 1920." (Jung, Cläre: Paradiesvögel. Erinnerungen. Hamburg: Nautilus Nemo Pr., 1987, S. 76ff.)
Ist es wahrscheinlich, dass Gross in der von Cläre Jung geschilderten Verfassung tatsächlich den angekündigten Vortrag gehalten hat? Ein Bericht war bislang nicht aufzufinden, allein die weiteren Umstände lassen sich erschließen.
Ausgerichtet wurde die Veranstaltung von der Sozialistischen Studentenpartei Berlin (SSPB), am 9. November 1918 erstmals in Erscheinung getreten, einer Organisation, die mehrheitlich aus Mitgliedern der USPD bestand und ihre Aufgabe darin sah, "die Schicht der Intellektuellen dem Sozialismus zuzuführen" (Programm der SSPB).
Erster Vorsitzender der SSPB ist Dr. phil. Hans Reichenbach, 1891 in Hamburg geboren, Freistudent vor dem 1. Weltkrieg, 1915 in Erlangen promoviert und früheres Mitglied des "Aufbruch-Kreises" um Ernst Joel und Rudolf Leonhard. Reichenbachs älterer Bruder Bernhard (geb. 1888 in Berlin) ist 1917 Gründungsmitglied der USPD und mit Franz Jung 1920 Mitbegründer der Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD).
Bereits im WS 1918/19 hatte die SSPB an der Universität wissenschaftliche Kurse, wöchentliche Diskussionsabende, öffentliche und literarische Abende ausgerichtet, die "ausschließlich Fragen der sozialistischen Theorie und Praxis betrafen und von linksbürgerlich-pazifistischen oder sozialistischen Intellektuellen oder Parteitheoretikern bzw. -praktikern abgehandelt wurden" (Linse, Ulrich: Hochschulrevolution. In: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 14. 1974, S. 55).
Nun also würde Otto Gross die Gelegenheit erhalten, seine Ideen vorzustellen. Tatsächlich hatte Gross bereits in der Vorbemerkung zu seinem Aufsatz "Zur funktionellen Geistesbildung des Revolutionärs" (Räte-Zeitung. Erste Zeitung der Hand- und Kopfarbeiterräte Deutschlands. Bd. 1, Nr. 52, Beilage) erklärt: "Der Verfasser dieses Artikels beabsichtigt, in der 'Freien Hochschulgemeinde für proletarische Kultur' Kurse 'Zur Psychologie der Revolution' mit Einführung in die Psychologie des Unbewußten (psychoanalytische Psychologie) zu halten."
Ganz im Gegensatz übrigens zu Albert Einstein, der Hermann Schüller, dem Initiator der inzwischen umfirmierten "Hochschule für Proletarier" (annonciert in: Räte-Zeitung, Bd. 1, Nr. 53, S. 2), nicht einmal für einen Besuch zur Verfügung stand und diesem am 14. Dezember 1919 schrieb:
"Sehr geehrter Herr!
Aus Ihrem Programm entnehme ich, dass es wenig Zweck hätte, wenn Sie mich besuchen würden. Es scheint sich weniger um eine Schule zu handeln, in der begabte Proletarier Kenntnisse und Denkmethoden erwerben können, als vielmehr um ein propagandistisches Institut, in dem unfruchtbarer Hass gepflanzt werden soll.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Albert Einstein"
(The Collected Papers of Albert Einstein. Vol. 9: The Berlin Years: Correspondence January 1919-April 1920, p. 299)
Hermann Schüller (1893–1948) war (so Linse, a.a.O., S. 104 FN 383) Leiter des jugendbewegt-sozialistischen "Bundes Aufbau" in Berlin, dem sich die "Freie Schülerschaft Berlin" und die "Freie Hochschulgemeinde Berlin" angeschlossen hatten. Die Gründung weiterer "Freier Hochschulgemeinden und Schulgemeinden" war das Ziel des Bundes. Die "Freie Hochschulgemeinde Berlin" und Schüller gaben die Schriftenreihe "Der Aufbau. Flugblätter an die Jugend" heraus (in deren Heft 5 Hans Reichenbach seine Arbeit "Student und Sozialismus" veröffentlichte). Schüller war außerdem in der Schriftleitung des Blattes "Die Hochschule" vertreten, das sich "für die Erneuerung unseres Bildungswesens aus dem Geiste der Gemeinde und des Sozialismus" einsetzte (Freideutsche Jugend, Jg. 5, 1919, S. 132). Seine hochschulreformerischen Gedanken stellte Schüller im Detail in etlichen Veröffentlichungen, so in "Über das Prinzip der Freien Hochschulgemeinde" (Das Ziel, Bd. 3, 1, 1919, S. 127-135); "Revolution und Aufbau"; "Der Bund Aufbau"; "Die Freie Hochschulgemeinde" (Der Aufbau, 1919, H. 1-3) vor.
Nicht unerwähnt bleiben soll die Bekanntschaft Schüllers mit Paul Reiner, wie Schüller Mitglied des so genannten "Revolutionären Führerrates", der sich im Verlauf des Freideutschen Führertages Ostern 1919 gebildet hatte und maßgeblich an der Vorbereitung der 1. Tagung sozialistischer Studentengruppen am 20.-22. April 1919 beteiligt. Dr. phil. Paul Reiner, Anhänger von Stefan George, langjährig Vorsitzender der Gruppe sozialistischer Akademiker Münchens und 1919 Lehrer an der Freien Schulgemeinde Gustav Wynekens in Wickersdorf, war 1913 als Hauslehrer für die Kinder des Ehepaars Jaffé in Wolfratshausen tätig. Max Weber, als Berater für Gross' Frau Frieda aktiv, bat Reiner am 8. März 1914 um ein schriftliches "Attest" zur Persönlichkeitsentwicklung von Peter Gross, den Sohn von Frieda und Otto Gross, den Reiner in Wolfratshausen kennengelernt hatte. Max Weber schrieb nach Erhalt des erbetenen Dokuments an Frieda Gross: "[…] Herrn Reiner haben Sie, nach seinem 'Gutachten' zu schliessen, gründlich behext: Sie kommen im Stefan George’schen Himmel sicher gleich nach Maximin.“
Eine seiner letzten Arbeiten, "Zur neuerlichen Vorarbeit: vom Unterricht" (Das Forum. Bd. 4, Nr. 4, S. 315-20) leitet Gross ausgerechnet mit einem Zitat von Stefan George ("Ihr wühltet in der Aschen die bleichen / Finger ein mit Zittern, Zucken, Haschen: / Wird es noch einmal Schein?") ein - um im Folgenden zu beschreiben, wie es seiner Auffassung nach ermöglicht werden kann, "in jedem Individuum der neuen Generation ... die Bildung seines eigenen Menschentums ... frei zu machen."