Der Regierungskommissar in Locarno, Fr. Rusca, schrieb am 23. Juni 1906 an die Centralpolizeidirektion Bellinzona: „Mit Wachtmeister Noseda habe ich mich nach Ascona begeben um die Privathäuser zu besuchen, in welchen [...] diese Fremdlinge verkehrt hatten, und ich habe dabei konstatiert, daß eine große Anzahl der letzern offenbar aus Mißtrauen wegen des an die gestellten Begehrens, innert 10 Tagen regelrechte Pässe vorzulegen, in andere Gegenden verzogen sind.
Ferner habe ich festgestellt, daß diese Herren am 4. März dorthin kamen, bis 3. Mai dort blieben und daß nur wenige noch gestern daselbst waren. Mitte März betrug die Zahl dieser ungewöhnlichen Besucher Ascona‘s etwas fünfzig. Was der Grund zu diesem unerwarteten Besuch war, ist schwer zu sagen, weil die Gruppe, welche Grund zum Verdacht gab, daß sie irgend einer Verbindung angehören könnte, nur aus einigen Mitgliedern bestand. Nur etwas ein Dutzend waren es, während die übrigen nie mit den ersteren im Verkehr zu sein schienen, daher glaube ich schon, daß es nur Studenten und Studentinnen waren, die dort ihre Ferien verbrachten, und doch ist es eigentümlich, daß sie für ihren Ferienaufenthalt eine bis zum heutigen Tage eigentlich unbekannte Ortschaft ausgewählt und sich dort in so großer Zahl eingefunden hatten. War dieses Verhalten vielleicht dazu berechnet, um den Behörden nicht aufzufallen? Das ist eine Frage die ich mir gestellt habe, aber nicht beantworten kann. Immerhin berechtigt das Verhalten der von mir signalisierten Gruppe zu einigem Mißtrauen. Nachdem was mir diese Herren gesagt haben, waren ihre Beziehungen zu intim, daß man es ledigligch als Freundschaft hätte auffassen können. Zu den schon genannten Personen (A. W. de Beauclair, Dr. Otto Bück, Friedrich Wilhelm Robert Klein, Johannes Nohl, Anna Haag und Sophie Benz) sind noch folgende zu nennen: Otto Dreidner, Student aus München, Erik Mühsam (Berlin), Frank Leonhard (München), Jeanne Hammer, Malerin von Metz, Schwangen August (ohne Angabe der Herkunft), Dr. Otto Gross von Graz. Dieser Letztere war der Wohlhabenste und verließ Ascona als einer der ersten, aus dem Auslande sandte er Geld der bereits genannten Haag. Kaum war er fort, schrieb er von Mailand aus seinem Logisgeber in Ascona, er habe ein Päckchen in seinem Zimmer vergessen, man solle es sofort vernichten und zwar mit möglichster Vorsicht, weil es Gift enthalte. Da dieser Umstand einige Wichtigkeit haben könnte, teile ich dies auch mit ... P.S. Frick befindet sich in Ascona/Haus Bacchi.“ (zit. nach den Untersuchungsakten des Bundesarchivs Bern, 21/8710, in: Hurwitz, Emanuel: Otto Gross - Von der Psychoanalyse zum Paradies, in: Szeemann, Monte Veritá - Berg der Wahrheit. Milano 1978, S. 107-116, hier 110)
Sophie Benz, Ernst Frick, Otto Gross, Frank Leonhard - d.i. Leonhard Frank, Erik [sic!] Mühsam und Johannes Nohl sind uns bekannt. Wer aber sind die anderen genannten Personen? Tragen wir das Bekannte zusammen:
“Beauclair war vermutlich als Beobachter im Auftrag von Oedenkoven bei der Versammlung zugegen. [...] Rusca unterscheidet deutlich zwei Gruppen unter den Gästen: die Münchner Bohèmiens um Mühsam (und jetzt auch Gross), die er auch namentlich aufführt (Beauclair passt nicht zu ihnen). Mit Frick zusammen bilden sie genau ein Dutzend. Die andere Gruppe, etwa 40 Personen, sind Studenten, die in Ascona offenbar ihre Semesterferien (März und April) verbringen. Deren Zahl wiederum entspricht annähernd der Zahl der Tänzer, die sich, nach Wölfling, an Ostern 1905 tanzend um Karl Gräser tummelten. In beiden Fällen dürfte es sich vorwiegend um russische Studenten und Studentinnen aus Genf und Bern gehandelt haben. (Friedeberg schreibt am 7. März 1906 von einer 'Russenseuche ... wie in jedem Jahr ... Das dauert bis in Bern und Genf wieder das Semester anfängt, früher ziehen diese Studenten, Männlein und Weiblein, nicht ab.')
Was diese Leute so zahlreich nach Ascona lockte, ist die Frage. Wahrscheinlich war es der Tolstoianer und Tolstoi-Übersetzer Skarvan, zusammen mit Gusto Gräser, der die Verbindung mit den russischen Kolonien herstellte. Aus dem Tagebuch von Gräsers Mutter erfahren wir, dass Gusto im Sommer 1905 mit Skarvan nach Genf reiste. Es kommen aber auch Mühsam und Nohl als Vermittler in Frage, die 1904 mit den russischen Studenten in Genf Verbindung hatten. Außerdem aber war der MV schon seit 1900 oder 1901 in den revolutionären Studentenkreisen von Zürich bekannt. Eine dieser Studentinnen, Katharina Efross, war zeitweise Mitarbeiterin im Sanatorium. Die Verbindung Asconas zur russischen Emigrantenszene hatte also Tradition. Deshalb kamen ja im Sommer 1905 russische Flüchtlinge nach Ascona, deshalb auch, vermutlich schon 1904, Lenin, der mit den Gräserbrüdern Gespräche führte. Will sagen: Diese Studentengruppe wurde zunächst von den Gräsers angezogen, beteiligte sich an den nächtlichen Tänzen im Wald und gehörte nicht zur Mühsam/Gross-Gruppe, scheint sich aber lose (zeitweise und vorübergehend) an diese angeschlossen zu haben. Vielleicht war der Kontakt nur zufällig, durch räumliche Nähe und politische Sympathie bedingt. Jedenfalls habe ich keinen Hinweis, dass es auf Dauer eine Verbindung der russischen Studenten mit der Grossgruppe gegeben hätte.” (Hermann Müller, Mail vom 16. November 2005)
“De Beauclair ist am 10. 7. 1877 in Darmstadt geboren und mit 85 Jahren am 30. 10. 1962 in Ascona gestorben. Als Zwanzigjähriger wanderte er mit einem Malerkollegen auf dem Balkan und in Italien, erwarb sich seinen Lebensunterhalt, indem er reiche Bürger zeichnete. Während zweier Jahre kopierte er in Florenz die Werke der großen Meister, auf dem Rückweg von dort besuchte er Ascona. er gehörte nicht zu den Pionieren, kam wohl erst 1906 auf den Berg. (Ida Hofmann erwähnt ihn in ihrer Schrift von 1905/6 noch nicht!) Möglicherweise war er zur Zeit von Ruscas Bericht noch gar nicht mit Oedenkoven liiert und könnte sehr wohl, als ehemals vagabundierender Künstler, Neigungen für die ungebundene Lebensweise der Grossianer und Gräsers gehabt haben.
De Beauclair war in erster Ehe verheiratet mit der Malerin Friederike Krüger, mit der zusammen er in Ascona eine Malschule eröffnete. Friederike ist auf dem Foto mit Hesse zu sehen. Er machte mit seinen Schülern, sie musste den Haushalt für die ganze Bande besorgen. Das hatte sie eines Tages satt und rauschte mit den beiden Söhnen Gotthard und Wilfried ab nach Deutschland. Gotthard wurde ein bekannter Lyriker und Buchkünstler. Friederike starb 1935 in Argentinien [nach Angaben von Beate Schöch-de Beauclair vielmehr 1946 in Oberstdorf, Anm. d. Verf.]. Die zweite Frau von Beauclair wurde die Holländerin Nelltye Bersma, von ihr stammen die Kinder Henrike, geb. 1928 (unsere Hetty) und Liliane, geb. 1931.
"B. gab eine Zeitschrift CRONACA DI ASCONA heraus, von ihm stammt auch der Plan des MV-Geländes.” (Hermann Müller, Mail vom 30. November 2005)
"Friederike Krüger wurde am 23. September 1882 in Darmstadt geboren und starb nach einem einsatzfreudigen und arbeitsreichen Leben als Künstlerin und Mutter am 4. Februar 1946 in Oberstdorf/Allgäu. Sie hatte an der Kunstakademie Karlsruhe bei Prof. F. Fehr Malerei studiert. Von 1906 bis 1927 war sie mit A. W. de Beauclair verheiratet. 1920 entschloß sie sich, Ascona zu verlassen und zurück nach Darmstadt zu ziehen, um ihre Kunst ausüben zu können und um ihren Söhnen eine weiterführende Schulbildung zu ermöglichen. Gotthard wurde ein angesehener Buchgestalter (u.a. eigener Verlag ars librorum mit bibliophilen Ausgaben) und geschätzter Lyriker. Er starb am 31. März 1992 in Freiburg im Breisgau. Wilfried studierte Maschinenbau (Dr. ing.) an der TH Darmstadt und wurde ein früher Fachmann auf dem Gebiet der Datenverarbeitung. Friederike lebte von Dezember 1927 bis März 1935 in Argentinien, wo sie vor allem private Portrait-Aufträge erhielt. Nach ihrer Rückkehr wohnte sie zunächst kurze Zeit bei Sohn Gotthard, der damals beim Insel-Verlag in Leipzig tätig war, dann zusammen mit Wilfried in Darmstadt. Leider wurde bei der Bombardierung Darmstadts im September 1944 auch ihr Atelier mit vielen Arbeiten zerstört. Die wenigen Jahre, die ihr nach Kriegsende noch blieben, lebte und malte sie in Riezlern im Kleinen Walsertal. Alexander Wilhelm de Beauclair hatte mit Oedenkoven einen Arbeitsvertrag (ab August 1906) als Verwalter im Sanatorium auf dem Monte Verita. Am 23. November 1906 heiratete er Friederike in Ascona. In zweiter Ehe heiratete er 1927 die schon im Tessin lebende Holländerin Neeltje Bersma, genannt Nelly, geb. 27. Mai 1892 auf Ameland. Nelly bekam zwei Töchter, Enrichetta Alessandra, genannt Hetty (geb. 14. Dezember 1928) und Lilly Anna (Liliana) (geb. 18. April 1931). Lilly starb als junges Mädchen am 28. Oktober 1945 vermutlich an einer zu spät erkannten Blinddarmentzündung." (Beate Schöch-de Beauclair, Mail vom 27. November 2010)
- Dr. Otto Buek, Schriftsteller und Übersetzer aus Steglitz (geb. 19. 11. 1873 in Petersburg, gest. nach 1960?), Studium in Heidelberg und Promotion zum Dr. phil. lebte als Übersetzer, Herausgeber und Journalist in Berlin, befreundet mit Senna Hoy (1884-1914) und Franz Pfemfert (1879-1954); vgl. Die Aktion, Einf. u. Komm. v. Paul Raabe, Stuttg. 1961, S. 40. - 1913 gehörte er zum Kreis um Alfred Richard Meyer, wie Fritz Max Cahén berichtet (in: Imprimatur. Bd. 3. 1961/62, S. 191). Buek galt als Neukantianer und Anhänger des bis 1912 in Marburg lehrenden Philosophen Hermann Cohen (1842-1918). Er war durch seine Sprachkenntnisse und sein Studium der Philosophie, Mathematik und Chemie vielseitig gebildet. In der Festschrift zu Hermann Cohens 70. Geburtstag (Philosophische Abhandlungen. Berlin: Cassirer 1912) ist B. mit einem Beitrag über "Faradays System der Natur und seine begrifflichen Grundlagen" vertreten. In den zwanziger Jahren war er Mitarbeiter an der vom Neukantianismus geprägten Cassirerschen Kant-Ausgabe. Als Studienfreund des Arztes und Pazifisten Friedrich Georg Nicolai (1874-1964) unterzeichnete B. zusammen mit Einstein und F. Wilhelm Förster im Oktober 1914 Nicolais "Auf der Europäer" als Gegenerklärung zur Rechtfertigung des deutschen Überfalls auf das neutrale Belgien; der Aufruf konnte erst 1917 als Einleitung zu Nicolais "Biologie des Krieges" in Zürich erscheinen (vgl. dazu Wolf Zülzer: Der Fall Nicolai. Frankf./M. 1981, S. 33f., 139, 192ff.). 1913/14 war B. Herausgeber der Zeitschrift "Die Geisteswissenschaften", die in nur einem Jahrg. in Leipzig erschienen. Becher widmet das Gedicht "Gebet im Winter 1915/16" (in: "An Europa", 1916) "Doktor Otto Buek in Freundschaft"; vgl. dazu: Becher: GW, Bd 1, Berlin 1965, Anm. S. 632. Im Brief vom 18. 12. 1916 an Katharina Kippenberg zählt Becher Otto Buek zu den "sieben Menschen, die ich liebe" (Becher u. die Insel. Leipzig 1981, S. 39) (Alle Angaben in: Kühn-Ludewig, Maria: Johannes R. Becher, Heinrich F. S. Bachmair. Briefwechsel. Frankfurt a.M., Bern, New York: Lang 1987, Anm. 3 S. 122-123)
- Otto Dreidner, Student aus München: Bisher nicht ermittelt
- Anna Haag: Die Vermutung, bei Anna Haag könne es sich um die gleichnamige Schriftstellerin, Pazifistin, Politikerin (SPD) und Frauenrechtlerin (1888-1982) handeln, erwies sich als unzutreffend. Petra Brixel wies darauf hin, dass Anna Haag aus Wien stammte und in München studierte. Eine Anna Haag nennt Leonhard Frank in "Links wo das Herz ist": "Eine Bekannte von Sophie [gemeint ist Sophie Benz, R.D.], die Malerin Anna Haag, kam an den Tisch, in der Hand zwei Billets, und fragte, ob Sophie und Michael ins Tonhallenkonzert gehen wollten. R ... dirigiere. Sie war seit langem hoffnungslos in den Dirigenten veliebt, hatte ihm immer wieder Blumen geschickt, viele Briefe geschrieben und nie eine Antwort bekommen. Zu jedem Konzert, das R ... dirigierte, kaufte sie ein Dutzend Eintrittskarten und verschenkte sie im Café Stephanie. Sie gingen. R. war ein berühmter Dirigent. Die Tonhalle war ausverkauft. [...] Anna Haag zeichnete den Dirigenten in ihr Skizzenbuch, fiebrig auf immer neuen Blättern jede Dirigierbewegung der jünglinghaft schlanken Gestalt im Frack. Sie hatte daheim schon hundert Skizzen dieser Art, für eine große Radierung - Orchester, geleitet von R ... (Eine Woche später schoß sie sich eine Kugel in die Brust. Er hatte wieder nicht geantwortet. Sie lag zwei Monate im Spital und war nach der Entlassung wie vorher in ihre Liebe verloren. Der Dirigent mit dem eleganten Rücken hatte es ihr angetan." (Frank, Leonhard: Links wo das Herz ist. München: Nymphenburger Verlagshandlung, 1952, S. 35-36)
- Jeanne Hammer, Malerin aus Metz: Bisher nicht ermittelt
- Friedrich Wilhelm Robert Klein aus Heidelberg: „Von den Genannten ist zumindest Fritz Klein kein ganz Unbekannter. Linse schreibt in "Organisierter Anarchismus im Deutschen Kaiserreich von 1871": "Ferner gehörten zum Tat-Kreis ... der Student und Schriftsteller Friedrich Klein, geb. 1882, bei dem Otten in München wohnte (STAP 9012 und 16077)" (Anmerkung S. 94). Mühsam erwähnt ihn dreimal in seinen Tagebüchern, einmal als den "üblen Fritz Klein" (78) als haltlosen Gesellen von Franz Jung. "Nun kommen Leute wie Klein und Jung in die Gruppe, innerlich verwahrloste Menschen" (84), "lauter verbummelte Leute, Klein, Jung etc." (94). Vielleicht findet sich also auch bei Jung etwas über ihn oder bei Graf, bei Otten. Ich meine ihm jedenfalls im Kreis der Schwabinger Bohème mehrmals begegnet zu sein.“ (Hermann Müller, Mail vom 29. August 2006)
- August Schwangen: Bisher nicht ermittelt