von Franz Jung

Vorbemerkung

Der Aufsatz von Franz Jung sollte die Einleitung zu einer Werkausgabe von Otto Gross werden, die Jung herauszugeben plante. Zuletzt wiederabgedruckt wurde der Aufsatz in: Dehmlow, Raimund u. Gottfried Heuer: Otto Gross. Werkverzeichnis und Sekundärschrifttum. Hannover: Laurentius 1999

Otto Gross wurde im Jahre 1877 in Czernowitz geboren [Tatsächlich: Gniebing bei Feldbach in der Steiermark, Anmerkung R.D.], wo sein Vater Erster Staatsanwalt war. Später übernahm der Vater eine Dozentur für Kriminalistik in Graz, wo auch Otto Gross dann das Gymnasium besuchte.

Geben Sie acht, er beisst! Hans Gross über den Sohn Otto Der Vater war zeitlebens in Österreich und wohl auch darüber hinaus eine anerkannte Autorität in kriminalistischen Fragen. Eine Verbesserung des Bertillon'schen Systemes, Organisationsschemen für die politische Polizei und Ähnliches wie Registrierungsschlüssel Verdächtiger etc. sind von ihm eingeführt und entworfen.

Otto blieb das einzige Kind. In der Schule war er mit der Note 1 alle Klassen hindurch Vorzugsschüler, sein Vater hätte sich sonst, wie er zu erzählen pflegte, das Leben genommen.

Er studierte dann in Wien Medizin und bestand, ohne besondere Begabung und Lust für einen Spezialzweig zu verraten, auch das Examen. Seine Studiengenossen schildern ihn als einen scheuen, zurückgezogen lebenden Menschen, ungesellig - der zweierlei besonders aus dem Wege ging: weiblichem Verkehr und Alkohol. Er galt daher als Duckmäuser. Er selbst erzählte aus der Zeit, daß er Botanik und Zoologie zu studieren begann und besonders in dem ersteren Fach sich weiterbilden wollte.

Seine ersten praktischen Jahre als Mediziner erledigte er als Schiffsarzt beim Triester Lloyd. Er machte mehrere Reisen nach Südamerika, wobei er jedesmal einige Wochen studienhalber als Botaniker in Patagonien zubrachte. Die Erinnerung an seine Ausflüge von Puntas Arenas aus ins Innere des Landes blieb ihm sein ganzes Leben lang leuchtend. Menschen aus jener Zeit erinnerte er sich nicht mehr. Auf jenen Seereisen begann er diese ihm später eigentümliche Form des Denkens zu üben, die fast bildlich wirkend den Gegenstand der Untersuchung als Ganzes packt, zerstäubt und auflöst. Auch die Narkotika, unter denen er später so zu leiden hatte, Morphium, Cocain und Opium stammen aus jener Zeit....wie ich damals in den Tropennächten auf Deck nach dem Himmel gesehen habe ... - Otto Gross an Frieda Weekley - Auf Schiffen der DDG Kosmos reiste er nach Südamerika

Plötzlich läßt er die Botanik fallen und geht als Assistent zu Freud, der damals gerade seine ersten Traumanalysen veröffentlicht hatte. Beide scheinen anfänglich gut miteinander ausgekommen zu sein. Freud drängt ihn, sich auf eine Dozentur vorzubereiten. Er geht zu diesem Zweck erst nach Heidelberg, wo er mit einigen deutschen Wissenschaftlern in engere Verbindung tritt, wie mit den Brüdern Alfred und Max Weber und dem späteren Münchener Finanzwissenschaftler Jaffé, der von allen seinen akademischen Freunden wohl der einzige geblieben ist, der ihm auch in späteren Jahren immer seine hilfreiche Hand geboten hat. Auf Anraten Freuds geht er dann nach München, um unter Professor Kraepelin in dessen Klinik seine Habilitationsarbeit zu machen und damit zugleich überhaupt auch unter den Münchener Psychiatern praktisch die Psychoanalyse zur Diskussion zu stellen. In jener Zeit erreicht sein persönlicher Einfluß in der sogenannten geistigen Welt Münchens seinen Höhepunkt.

Inzwischen hatte er sich mit der Tochter eines höheren Beamten aus seiner Heimat verheiratet, die aber zum Leidwesen seiner Eltern mittellos war. Er habilitiert sich in Graz und hielt auch zwei Semester über Vorlesungen über Hirnanatomie. Trotzdem war er häufiger in München als in Graz. Er hatte Analysen übernommen, die er mit einem Ernst durchzuführen begann, der an Selbstaufgabe grenzte. Er pflegte mit seinen Patienten zu reisen, ordnete sich deren Wünschen in jeder Weise unter und ließ alle seine Arbeiten im Stich. Obwohl man ihm in Graz soweit als möglich war, entgegenkam, war die Dozentur doch auf die Dauer nicht zu halten. Nach einem ersten längeren Urlaub gab er sie schließlich ganz auf, und entfremdete sich damit entscheidend seinem Vater, der ihm diesen Schlag, den er ganz persönlich als gegen sein Ansehen gerichtet empfand, nicht mehr vergessen konnte. Die Vorwürfe kehrten in jedem Brief über eine Spanne von fast 15 Jahren in zäher pathologisch wirkender Folge immer wieder.

Dann begann Otto Gross zu reisen. Er reiste in Italien, der Schweiz, Deutschland und Holland. Im Sommer am Meer, im Winter im Süden oder am Lago Maggiore, oder in München, wohin er immer wieder zurückkehrte, nur den einen Gedanken vor sich: das Leid aus der Welt zu schaffen, alle Eindrücke darauf gestellt und unaufhörlich jedes Geschehnis verarbeitend.

Plötzlich läßt er die Botanik fallen und geht als Assistent zu Freud, der damals gerade seine ersten Traumanalysen veröffentlicht hatte. Beide scheinen anfänglich gut miteinander ausgekommen zu sein. Freud drängt ihn, sich auf eine Dozentur vorzubereiten. Er geht zu diesem Zweck erst nach Heidelberg, wo er mit einigen deutschen Wissenschaftlern in engere Verbindung tritt, wie mit den Brüdern Alfred und Max Weber und dem späteren Münchener Finanzwissenschaftler Jaffé, der von allen seinen akademischen Freunden wohl der einzige geblieben ist, der ihm auch in späteren Jahren immer seine hilfreiche Hand geboten hat. Auf Anraten Freuds geht er dann nach München, um unter Professor Kraepelin in dessen Klinik seine Habilitationsarbeit zu machen und damit zugleich überhaupt auch unter den Münchener Psychiatern praktisch die Psychoanalyse zur Diskussion zu stellen. In jener Zeit erreicht sein persönlicher Einfluß in der sogenannten geistigen Welt Münchens seinen Höhepunkt.

Emil Kraepelin (1856-1920). Otto Gross spielte mit dem Gedanken, ihn wegen fachlicher Unkenntnis zu verklagenInzwischen hatte er sich mit der Tochter eines höheren Beamten aus seiner Heimat verheiratet, die aber zum Leidwesen seiner Eltern mittellos war. Er habilitiert sich in Graz und hielt auch zwei Semester über Vorlesungen über Hirnanatomie. Trotzdem war er häufiger in München als in Graz. Er hatte Analysen übernommen, die er mit einem Ernst durchzuführen begann, der an Selbstaufgabe grenzte. Er pflegte mit seinen Patienten zu reisen, ordnete sich deren Wünschen in jeder Weise unter und ließ alle seine Arbeiten im Stich. Obwohl man ihm in Graz soweit als möglich war, entgegenkam, war die Dozentur doch auf die Dauer nicht zu halten. Nach einem ersten längeren Urlaub gab er sie schließlich ganz auf, und entfremdete sich damit entscheidend seinem Vater, der ihm diesen Schlag, den er ganz persönlich als gegen sein Ansehen gerichtet empfand, nicht mehr vergessen konnte. Die Vorwürfe kehrten in jedem Brief über eine Spanne von fast 15 Jahren in zäher pathologisch wirkender Folge immer wieder.

Dann begann Otto Gross zu reisen. Er reiste in Italien, der Schweiz, Deutschland und Holland. Im Sommer am Meer, im Winter im Süden oder am Lago Maggiore, oder in München, wohin er immer wieder zurückkehrte, nur den einen Gedanken vor sich: das Leid aus der Welt zu schaffen, alle Eindrücke darauf gestellt und unaufhörlich jedes Geschehnis verarbeitend.

Nachdem er sich nach einigen Jahren von seiner Frau getrennt hatte, lebte er in Begleitung einer jungen Malerin, mit der ihn besonders innige Beziehungen verbanden. Die Künstlerin brauchte seine Hilfe, ein Gemütsleiden gewann tieferen Boden - und er selbst konnte nicht helfen. Er mußte es mit erleben, wie sie sich vor seinen Augen vergiftete. Gross hat in einer seiner letzten Arbeiten das Krankheitsbild seiner Freundin zur Grundlage einer Studie gemacht. Wer den Zusammenbruch nach deren Tod miterlebt hat, staunt über die kühle materialverwertende Objektivität dieser Studie.

Sieht man von den ersten Arbeiten nach seinem bestandenen Examen ab, die noch die Note des Vorzugsschülers tragen, so kann man diesen Zeitabschnitt als die erste Periode seines Schaffens bezeichnen. Alle seine Einsichten, auch seine späteren, beziehen sich auf jene Lebenszeit. In dieser Periode erschien neben einigen Analysen, die zu Spezialthemen als seine Fachliteratur verarbeitet wurden, das Werk "Ueber Psychopathische Minderwertigkeiten" (1907). Daneben eine Reihe Aufsätze. Diese Zeit war der Höhepunkt seines analytischen Wirkens überhaupt, in der Gesellschaft und seiner Umgebung. Daneben seine Tätigkeit in anarchistischen Kreisen, die Gross mit offenen Armen als seine Kameraden aufnahmen.

Nach dem Tod seiner Freundin verbringt Gross längere Zeit in tiefster Einsamkeit in Florenz, flüchtet dann vor Verfolgungen seines Vaters, der Polizei und Psychiater hinter ihm herhetzt, hält sich noch 2 Jahre lang teils in München und teils in Berlin auf, bis er schließlich doch ergriffen und in eine Anstalt gebracht wird. Der Versuch, ihn ganz unschädlich zu machen, mißlingt, weil die öffentliche Meinung unzweideutig für ihn Stellung nimmt. Der Gefangene wird aus der Privatanstalt einer öffentlichen Landesanstalt (Troppau) überwiesen und dort schon nach ganz kurzer Zeit als geistig völlig gesund erklärt. Der Chefarzt zieht ihn zur Krankenbehandlung heran. Eine bessere Antwort konnte dem Grazer Kriminalprofessor nicht erteilt werden.

In dieser Zeit, seiner zweiten Periode, hält Gross fortgesetzt Generalabrechnung mit sich selbst. Er erweitert seine Einsicht, baut die Denktechnik aus zu jenem System, das Hilfe und Waffe wird, und den neuen Menschentyp vorbereiten soll. Viele Arbeiten aus Florenz sind verloren gegangen, vieles hat Gross selbst wieder vernichtet. Er ringt mit dem Versuch, sich von der wissenschaftlich-medizinischen Stilführung zu befreien, einige Aufsätze zeugen davon. Diese Periode sichert erst seine wahre Bedeutung. Sie zeigt ihm auch Weg und Aufgaben.

Es folgt der Krieg. Gross beginnt zu praktizieren, um sich von zu Haus unabhängig zu machen. Er ist erst tätig in einem Kinderspital, später bildet er sich als Seuchenarzt aus und geht als solcher nach einem verrufenen Flecktyphus-Lazarett hinter der Front. Dort bleibt er einige Zeit. Seine Lebensumstände werden der Normalität angepaßter. Er gedenkt wieder zu heiraten, steht in größerem Verkehr, nimmt auch mit Hilfe Stekels die Beziehungen zur Wiener Schule wieder auf. Er sucht wissenschaftlich in der Analyse nach einer Brücke zwischen Freud und Adler.

Für mich bedeutete Otto Gross das Erlebnis einer ersten und tiefen, großen Freundschaft. Franz Jung über Otto Gross

Die Arbeiten dieser dritten Periode sind spärlich. Sie enthalten alle den Versuch, sich als Wissenschaftler zu rehabilitieren. Gross scheint einen Kompromiß mit der Umwelt eingegangen zu sein, der Frieden bereitet sich vor. Daneben schreibt er Tagebücher, in denen er über sich Buch führt. Wundervolle neue Einblicke in die menschliche Seele öffnen sich. Ein ganz eigenartiger Rhythmus beherrscht solche Selbstanalysen - etwas ironisch, etwas bedauernd, so wenn er davon schreibt, warum er eigentlich sich nicht sauber halten kann. Er versucht sich in Belletristik, schreibt Novellen und beginnt mit den ersten Kapiteln eines großangelegten analytischen Entwicklungsromans. Arbeitet an einem Buch, das den Astarte-Kult der Gegenwart näher bringen soll.

Da stirbt der Vater. Eine neue Kokainentziehungskur macht sich notwendig. Aber zum ersten Mal in seinem Leben muß Gross materiell rechnen. Die Mutter wird ihm das Geld nicht schicken, fühlt er. Jetzt ist niemand mehr, der ihn einsperrt, mit Gewalt droht. Er merkt, das war ihm Halt - er läßt alle Arbeiten fallen, verliert jeden materiellen Rückhalt, vermag sich von der Zeit auch äußerlich kaum noch selbständig zu bewegen. Alle Hemmungen der Konvention scheinen geschwunden, sein äußeres Verhalten erhält stark infantilen Charakter. Er scheint dem Untergang geweiht. Wochen- und Monatelang irrt er in Wien herum, ohne Geld, ohne Nachtquartier, dem Zufall eines Pumps bei Caféhausbekannten preisgegeben.

Er schreibt in dieser Zeit seine großen zusammenfassenden Arbeiten, die Aufsätze über Beziehung, die drei Aufsätze über den inneren Konflikt (Marcus & Weber, Bonn 1919) [sic], sein Meisterwerk, sein [sic] technisch als gedanklicher Ausdruck von solcher Präzision, daß man erschüttert die Gemütswucht empfindet, die das Leben anders haben will, eine Kraft des neuen Gesetzgebers geht davon aus - dann geht er im Oktober 1919 nach Berlin, so als hätte er jetzt eine Berechtigung, hier aufgenommen zu werden. Er kommt mit einer Leistung. Aber sein äußeres Dasein ist bereits zu verfallen. Er war nicht mehr zu retten. Wie im Fieber schreibt er Aufsatz über Aufsatz, alle plötzlich wieder mit starker politischer Note, völlig frei vom Therapeutischen. Am 13. Februar 1920 stirbt er.