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Der andauernde Verlust - Wie der Elbmetropole die Kreativität der galizischen Juden verloren ging

Referat gehalten am 29. November 2023 im Programm der „Festtage der jüdischen Kultur anlässlich der Eröffnung der Neuen Synagoge“ in Magdeburg im Forum Gestaltung

Übersicht

Einleitung

Die Inspiration zu diesem Vortrag verdanke ich Frau Waltraut Zachhuber, Herrn Norbert Pohlmann herzlichen Dank für die Unterstützung und freundliche Aufnahme im Forum Gestaltung.

Ich bin - wenn Sie so wollen - einer fixen Idee gefolgt: im Verlauf der Recherchen für die AG „Stolpersteine für Magdeburg“, der ich angehöre, fiel der beträchtliche Anteil von Menschen jüdischer Herkunft, die aus Galizien stammen, auf. Im „Regelfall“ beziehen sich die biografischen Daten, die von uns ermittelt werden, auf das zeitweilige Leben in Magdeburg, nicht aber auf das Leben der Menschen in der ursprünglichen Heimat.

Was brachten sie mit, als sie nach Magdeburg kamen, welchen religiös-politischen Ansichten hingen sie an? Was waren die Gründe, ausgerechnet Magdeburg als „neue Heimat“ zu wählen? Und: Wie organisierten sich die aus Galizien stammenden Juden in Magdeburg selbst? Wie war ihr Verhältnis zur angestammten Bevölkerung jüdischer Herkunft vor Ort, wie schließlich ihr Schicksal im Verlauf nationalsozialistischer Verfolgung, ihr mögliches Überleben?

Heinz Abosch: Flucht ohne HeimkehrDer wohl 15-jährige und in Magdeburg geborene Heinz Abosch erinnert sich an seine erste Reise in die Heimat seiner Vorfahren: „Ende der zwanziger Jahre reiste meine Mutter mit Susi und mir in ihre Heimat. Es war eine Rückkehr zu den Ursprüngen der Familie, auch eine Rückkehr zu ihren geistigen Wurzeln. ... Wir fuhren nach dem östlich von der Hauptstadt Lemberg gelegenen Städtchen Kolomea und von dort in den nahen Weiler Werbiaz. ... Der Großvater war ein kleiner Händler, ein Onkel Schankwirt und besaß eine Gärtnerei.“ (Abosch, Heinz: Flucht ohne Heimkehr. Stuttgart: Radius, 1997, S. 30)

Und - nun schon recht erwachsen diplomatisch:„Die Beziehungen zwischen den nationalen Gruppen - Juden, Ukrainer, Polen - waren äußerlich erträglich, wenn auch nicht gut. Man verkehrte geschäftlich miteinander, selten freundschaftlich.“ (Ebenda, S. 30)

Ein „Illustrierter Reiseführer durch Galizien“ liefert weiteren Aufschluss: „Mit seinen mehr als 8 Millionen Einwohner ist Galizien eines der dichtest besiedelten Länder Europas, indem auf 1 km2 102 Menschen entfallen.“ (Orłowicz, Mieczyslaw u. Roman Kordys: Illustrierter Führer durch Galizien. Wien u. Leipzig: Hartleben, 1914, S. 3)

In Kolomea, der fünfgrößten Stadt des Kronlandes, waren es 132. Vergleicht man den Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung einzelner Städte, so liegt er 1910 für Kolomea bei 44,3 %, nur Brody (67,5 %) und Stanislau (45,6 %) haben einen höheren Anteil.

Kolomea - Ort des Aufbruchs

Erste Erwähnungen über die Ansiedlung von Juden in Kolomea/Kołomyja stammen aus dem 13. Jahrhundert. 1569 ließen sich Juden aus Lemberg in einem separaten Stadtteil von Kolomea in der Nähe des Marktplatzes nieder. Eine königliche Kommission befahl dem Starost 1616 eine Synagoge zu errichten und Platz für einen jüdischen Friedhof bereitzustellen. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wurde die Stadt durch zahlreiche türkische Angriffe zerstört und 1629 vom rechten Ufer des Prut auf das linke verlegt. 1664 entstand eine neue, die Große Synagoge. Im 18. Jahrhundert spielte die jüdische Gemeinde eine bedeutende Rolle bei der Verbreitung des Chassidismus. Bereits 1778 gründete die Gemeinde die erste Schule. Ab 1787 befand sich neben der Großen Synagoge ein Cheder. In den 1860er Jahren entstand ein Kindergarten für jüdische Kinder. 1866 wurde eine zweite Grundschule eröffnet. 1898 wurde auf Kosten der Gemeinde ein Alten- und Behindertenheim gebaut. Im Jahr 1882 machten Juden 41,4 % der Gesamtbevölkerung aus, 1910 44,3 %. In den 1890er Jahren wurde ein jüdisches Laientheater gegründet. 1906 besuchte Sholem Aleichem Kolomea. In seiner Erzählung „Die Lüge“ nimmt er darauf Bezug. Es entstand die Druckerei von Wilhelm Brauner (1905–1923) und der Verlag „Hałyćka Nakładnja“ von Jakub Orenstein (1903–1919). Sie veröffentlichten eine Reihe ukrainischer Zeitschriften, Bücher und Übersetzungen. 1880 wurden lokale Zionisten aktiv. Die auf Hebräisch erscheinende Zeitschrift „Israel“ wurde gegründet, 1914 die Zeitschrift „Volks Zeitung“.

Im Ersten Weltkrieg marschierten 1914–1915 russische Truppen in Galizien ein. Die ortsansässigen Juden wurden massakriert, viele starben während der stattfindenden Pogrome, Synagogen wurden geschändet. In der Zeit von 1919 bis 1939 gehörte Kołomea zu Polen. Das politische Leben entwickelte sich weiter. Stark vertreten war die zionistische Mizrachi-Partei, die orthodoxe Aguda-Partei und die Arbeiterpartei Poale Zion. Die Aktivitäten der Jugend waren zionistischer Natur und unter anderem bei Hashomer Hatzair und Betar organisiert.

Aus Kolomea stammten neben der Familie Abosch die später in Magdeburg ansässigen Familien arrow Bienerarrow Kestenarrow Marguliesarrow Nemlicharrow Rosenheck und arrow Rostholder.

Galizien als Teil der Habsburgermonarchie

Im Jahr 1772 überschritten österreichische Truppen die polnische Grenze und besetzten den Südwesten der geschwächten polnisch-litauischen Adelsrepublik. Mit diesem Gebiet, das unter dem neugeschaffenen Namen „Königreich Galizien und Lodomerien“ zusammengefasst wurde, gerieten etwa 2,2 Mio. polnische Untertanen unter die Herrschaft der Habsburgermonarchie – davon mindestens 150.000 - 220.000 Juden.

Seit dem 15. Jahrhundert hatte die Konkurrenz mit christlichen Stadtbewohnern zu einer zunehmenden wirtschaftlichen Ausgrenzung der Juden geführt, in Folge derer sie aus den meisten großen Städten vertrieben wurden. Polnische Magnaten sahen allerdings das wirtschaftliche Potenzial der Juden und warben sie an, auf ihre Latifundien und neu gegründeten Privatstädte zu kommen, um die Wirtschaft mit aufzubauen. Diese enge Bindung an den Adel in den Privatstädten und im ländlich geprägten Osten der Adelsrepublik gilt als Ursprung der später für Osteuropa typischen „Shtetl“.

Galizien 1897

Galizien 1897

Juden waren Ende des 18. Jahrhunderts fest in die Bewirtschaftung adliger Güter eingebunden, in den Städten übernahmen sie fortan in gewisser Weise die Funktion des fehlenden Bürgertums, stellten in vielen Städten die Bevölkerungsmehrheit, dominierten Handel und Handwerk.

Wer nicht in den Städten selbst handelte, reiste als fahrender Händler oder Hausierer übers Land. Juden, die zu etwa 90 % als Schankwirte, Pächter, Kleinhändler, Handwerker und Hausierer tätig waren, waren unverzichtbarer Bestandteil des Wirtschaftskreislaufs.

Die 1776 eingeführte theresianische Judenordnung für Galizien - Maria Theresia regierte von 1740-1780 - war im Kern antijüdisch. Die bereits existierende Kopfsteuer wurde durch ein „Schutzgeld“ und eine „Toleranzgebühr“ ersetzt und von einer Gewerbe- und Vermögenssteuer ergänzt. Die Erlaubnis zur Heirat war an einen Vermögensnachweis und die Entrichtung einer Heiratstaxe gekoppelt; wer ohne eine obrigkeitliche Erlaubnis heiratete, wurde mit Abschiebung bestraft.

Die Judenpolitik Josephs II. - der von 1780-1790 herrschte - ist durch die Abschaffung der jüdischen Selbstverwaltung gekennzeichnet. Die jüdische Gemeindeautonomie und Gerichtsbarkeit wurde auf rein religiöse Belange beschränkt und staatlicher Kontrolle unterworfen. Arme Juden, die Steuern nicht bezahlen konnten, wurden als „Betteljuden“ des Landes verwiesen. Die Pachtung von Schnapsbrennereien und der Verkauf von Alkohol wurden weitgehend verboten und dadurch viele galizische Juden ihrer Existenzgrundlage beraubt. Ackerbau und Handwerk wurden gestattet und gefördert. Seit 1788 musste die männliche jüdische Bevölkerung Militärdienst leisten.

Seelenkonskription und Namenspatent

Bereits seit 1770 kam in der Habsburgermonarchie eine so genannte „Seelenkonskription“ zur Anwendung. Namentlich erfasst wurde dabei die christliche männliche Bevölkerung (Frauen und Juden nur summarisch, da sie für den Militärdienst nicht in Frage kamen) und landesweit Hausnummern eingeführt. Diese Regelung war nun auch für das neue Kronland anzuwenden. Die große Mehrheit der galizischen Juden führte vor 1785 keinen Familiennamen im modernen Sinn. Üblich waren der religiöse Name (oder „oyfruf-nemen"), der bei der Beschneidung am achten Tag des Lebens vergeben wurde, also beispielsweise Moshe und der „ruf-nemen“, der weltliche Name, der im täglichen Leben zur Verwendung kam - wie Moishe.

Im Zuge der Konskription wurde die jüdische Bevölkerung – wie bereits in der vorausgehenden Steuerregulierung – in Familien bzw. Haushalte unterteilt, die den jeweiligen „Hausvätern“ unterstanden. Jede Familie wurde namentlich in das Familienbuch der Hauptgemeinde eingetragen und erhielt eine fortlaufende Familien-Nummer sowie die Zuordnung zu einer Steuerklasse. Zudem bekam jeder Hausvater ein Steuerbüchel, während alle anderen Familienangehörigen und Dienstangestellten Toleranzzettel erhielten.

Mit dem so genannten Handbillet vom 13. Mai 1781 ordnete Joseph II. an, dass Juden innerhalb von zwei oder drei Jahren die jeweilige Landessprache erlernen und auch für ihre Buchführung verwenden sollen, das Hebräische folglich nur noch im religiösen Leben eine Rolle zu spielen habe. Aus diesem Grund sollten sie in eigenen Schulen Unterricht in der jeweiligen Landessprache erhalten und der Zugang zu Universitäten und Literatur sowie der Buchdruck sollten ihnen gestattet werden. Sie sollten zu Handelsgeschäften ermutigt und ihnen bislang verschlossene Erwerbszweige wie Ackerbau, Fuhrgewerbe, Handwerke, Künste, Industrie und Handel geöffnet werden.

Die Hofkanzlei verfügte am 7. Juni 1782, dass die „jüdische“ und hebräische Sprache in Galizien innerhalb von zwei Jahren abzuschaffen und alle behördlichen Dokumente in diesen Sprachen für ungültig zu erklären seien.

Mit Patent vom 20. Februar 1784 wurde in der ganzen Habsburgermonarchie die Führung von Geburts-, Ehe- und Sterberegistern für Christen und Juden angeordnet. Darüberhinaus wurden die jüdischen Gemeinden verpflichtet, gegen Jahreswechsel statistische Listen aller Geburten, Trauungen und Todesfälle an die Kreisämter einzusenden.

Ende 1785 wurde Deutsch auch in allen Gerichtsstellen als Amtssprache eingeführt und den nicht deutschsprachigen Gerichtsbeamten eine Frist von drei Jahren zu ihrem Erlernen gegeben.

Mit dem Namenspatent vom 23. Juli 1787 hatte jeder jüdische Hausvater ab dem 1. Januar 1788 einen „bestimmten Geschlechtsnamen“ zu führen, verheiratete Frauen den ihres Mannes, ledige Frauen den ihres Vaters. In Bezug auf die Vornamen wurde verordnet, dass „iede einzelne Person aber ohne Ausnahme, einen deutschen Vornamen sich beilegen, und solchen zeitlebens nicht abändern solle“.

Es dauerte bis zum 27. August bis das Namenspatent Galizien erreichte. Doch statt deutsche Vornamen zu vergeben, entschied sich das Gubernium (die landesfürstliche Verwaltungsbehörde), das Namenspatent auf eigene Art zu deuten und stattdessen deutsche Familiennamen einzuführen. Die galizischen Behörden leiteten somit mit ihrer Entscheidung einen Sonderweg ein, der sich von allen anderen Landesteilen deutlich unterschied.

Mit dem Hofdekret vom 12. November 1787 wurden die Länderstellen über eine Einschränkung jüdischer Vornamen informiert und in einem „Namensbüchel“ 144 erlaubte Vornamen (109 männliche und 35 weibliche Namen, später 122 und 37) übermittelt.

Die Judenordnung vom 7. Mai 1789 schloss den langwierigen Reformprozess für Galizien ab. Nach § 13 wurde ein Zeugnis in deutscher Sprache Voraussetzung für eine Heiratsgenehmigung, ab 1792 mussten auch Handwerksjungen, um losgesprochen zu werden, einen zweijährigen Besuch der deutschen Schule nachweisen, laut §§ 5 und 19 der Ordnung waren Deutschkenntnisse auch eine Grundvoraussetzung für Gemeindevorsteher und Rabbiner.

Wie lief die Konskription ab?

Ein Kreiskommissär, zumeist ein Militärangehöriger, reiste über das Land und hatte eine Kommission von fünf bis sieben Männern einzurichten. Neben dem Kommissär war der (christliche) Kahalschreiber (Kahal = Gemeinde) der einzige weitere Staatsbeamte.

Am festgesetzten Tag der Konskription hatten im Hauptort alle Angehörigen eines Haushaltes – auch die Dienstboten – zu erscheinen, sofern sie das 12. Lebensjahr vollendet hatten. Als Hausväter sollten auch verheiratete Juden gelten, die nicht mehr im elterlichen Haus wohnten, „unverheurathete Juden aber in keinem Fall“. Die Namen, Gewerbe, Klasseneinteilung und Steueraufkommen aller Anwesenden bzw. ihrer Angehörigen wurden in die Familienbücher, Steuerbücher und Toleranzzettel eingetragen und bildeten die Grundlage für die künftige Besteuerung sowie die Duldung an sich.

Immer nur eine Familie auf einmal hatte den Raum der Kommission zu betreten, wo der jeweilige Familienvater sein Gewerbe angeben, seine Heiratserlaubnis vorzeigen und alles prüfen lassen musste. Anschließend wurde „zur Namens Creirung geschritten, das ist: der Jude muß befragt werden, was er für einen Familien Namen wirklich habe, oder sich wählen wolle, wobei der Bedacht zu nehmen ist, daß wenn mehrere Familien in linea descendente vorhanden sind, allen diesen der einmal angenohmene Namen beigeleget [...].

Den Juden wurde dabei – zumindest formell – die Wahl gelassen, einen Familiennamen selbst zu wählen oder sich von der Kommission geben zu lassen, wobei das Prozedere für Letzteres dahingehend konkretisiert wurde, dass „übrigens aber darauf gesehen werde, daß nicht 2. ganz gleiche Familien Namen angenommen, und so viel möglich von einander unterschieden werden, zu derlei Beinamen werden, in zweifelhaften Fällen die Namen der Geburts-Örter, der Landschaften u. s. w. gute Dienste leisten“.

Mit der Niederschrift der neuen Namen in das Familienbuch war die Namensregistrierung abgeschlossen.

Mit der Rektifikation 1787 wurde eine Anpassung von Vornamen vorgenommen, nun waren auch jiddische Vornamen möglich. Man versuchte eine Herstellung der Einheitlichkeit unter Verwandten zu erreichen, der Klang wurde eingedeutscht, Namen direkt ins Deutsche übersetzt und erneut neue Namen kreiert.

So entstanden beispielsweise auch die Familiennamen von Mechl Bedfort, Selig Birbach, Jokel Elsterwerth und Laia Ordlinger, allesamt Figuren aus dem Lustspiel Das Kleid aus Lyon von Johann Friedrich Jünger (1756-1797), das 1787, im Jahr der zweiten Benennungswelle, in Wien aufgeführt wurde.

Der Beginn der Habsburgerherrschaft - so kann man zusammenfassend sagen - bedeutete einen tiefen Einschnitt in die bisherige polnisch-jüdische Lebenswelt. Nach der Annektion des ehemals polnischen Gebiets, leiteten die Österreicher Reformprozesse ein, die die neue Provinz modernisieren und ihre Bewohner in den Untertanenverband der Habsburgermonarchie integrieren sollten. In Bezug auf die galizischen Juden zielte diese Politik vor allem darauf ab, die jüdische Selbstverwaltung abzuschaffen, Juden gesondert zu besteuern, ihre Anzahl und Ausbreitung einzudämmen und sie so auf verschiedenen Wegen für den Staat „nützlich“ zu machen. Juden waren im Verlauf dieses Prozesses nicht die schwachen und passiven Opfer. Sie konnten selbst auf den Benennungsprozess einwirken und zeigten ein Interesse, traditionelle Beinamen beizubehalten. Die erste Namensverordnung 1785 war Ausdruck der Entwicklung der Habsburgermonarchie von einer Ansammlung verstreuter Territorien zu einem zentralisierten Flächenstaat. Die Habsburgermonarchie entwickelte sich allerdings nicht zu einem Nationalstaat, sondern zu einem multiethnischen Imperium.

Judenfeindliche Gerüchte, antisemitische Hetze und Pogrome gehörten im Kronland zur Tagesordnung

Im März 1898 verbreitete sich in Wieliczka das Gerücht, die Juden planten ein Attentat auf einen Politiker und örtlichen Gemeindepfarrer. Die Gerüchte mobilisierten vor allem Jugendliche, die am Abend vor der Kirche zusammenliefen. Eine halbe Stunde später warfen sie in den Seitenstraßen des Marktplatzes Fensterscheiben in jüdischen Häusern ein.

In Pielgrzymka bei Zmigród verbreitete sich das Gerücht, die Juden hätten einen Barbier damit beauftragt, dem Kaiser bei der Rasur die Kehle durchzuschneiden. Dieser Plan sei aufgeflogen und der Kaiser habe zur Strafe die Erlaubnis erteilt, Juden zu schlagen und auszurauben.

In Sambor behauptete eine Frau, dass der Papst die Erlaubnis zum Schlagen der Juden erteilt habe, weil diese einen Priester ermorden wollten.

Im Mai 1898 erschien ein Vertreter der Firma Baumann bei einem christlichen Kaufmann in Kalwarya Zebrzydowska und pries ein neues Mittel zum Löschen von Tintenflecken an. Vor der Weiterreise hinterlegte er Werbezettel für das Produkt namens „Statim“. Der Kaufmann verteilte die Werbung unter seiner Kundschaft und bald entstand das Gerücht, er vertreibe die ersehnten Erlaubniskarten zum Schlagen von Juden.

Im Wallfahrtsort Kalwarya erfuhr ein Eisenbahnbeamter 1898 von seinem Dienstmädchen, dass „die Bauern die Juden prügeln werden“ und hierzu die Bewilligung des Bezirkshauptmanns eingegangen sei. Die Juden hätten einen Geistlichen in Sulkowicze erschlagen und der Papst daher erlaubt, die Juden zu schlagen. In der Folge kam es zu Übergriffen, insgesamt neunundfünfzig Fensterscheiben in von Juden bewohnten Häusern wurden eingeworfen, eine an die Tausend Menschen zählende Menge lief mit „Hurra Bauern, auf die Juden!“-Rufen durch die Stadt und alle Fensterscheiben der jüdischen Häuser wurden eingeworfen, eines ausgeraubt.

Bei einer Ansammlung in Zagórz (arrow Golda und arrow Gusta Kern stammen von dort) rief jemand, dass in der Zeitung stehe, man dürfe an diesem sowie an jedem weiteren 19. eines Monats die Juden schlagen.

In der Nähe von Kolomea behauptete die Tochter des Ortsschullehrers vor dem Schulgebäude einen „versiegelten Brief“ gefunden zu haben, der einen „Aufruf an das christliche Volk“ enthalten und zur „Vertreibung der Juden“ aufgerufen habe.

Frysztak wurde zum Ort der „galizischen Blutvesper“. Am Fronleichnamsdonnerstag im Juni 1898 folgte auf eine Auseinandersetzung in einer jüdischen Schenke Unruhe auf dem Marktplatz, wobei jüdische Marktstände umgeworfen wurden. Der durch Soldaten verstärkten Gendarmerie warf sich eine wütende Menge entgegen. Ein Gendarm wurde mit einer Sense verletzt, die Soldaten gaben vierzehn Schüsse ab, elf Menschen starben.

An Plünderungen in der Stadt Stary Sacz im Juli 1898 waren angeblich über zweitausend Bauern, Frauen wie Männer und Kinder beteiligt. Bürger der Stadt bereicherten sich auf Kosten jüdischer Geschäftsleute und Einwohner. Um den Marktplatz herum wurden über Stunden einunddreißig Häuser geplündert, in denen Juden wohnten und Geschäfte betrieben. In der Folge wurde über 33 Bezirke der Ausnahmezustand verhängt.

In 49 % der Ortsgemeinden des Bezirks Nowy Sacz (woher arrow Debora Weinberger und arrow Ester Weissmann stammen), in 45 % des Bezirks Strzyzow (woher arrow Gina und Moses Neumann stammen), 44 % der Ortsgemeinden des Bezirks Jaslo und in 36 % von Frystak kam es zu gemeldeten Übergriffen gegen Juden. Bis zum 14. Februar 1899 wurde 962 Täter rechtskräftig zu einer Haftstrafe von durchschnittlich einem knappen Monat verurteilt.

Zwei Ereignisse waren geeignet, das jüdische Vertrauen in den österreichischen Staat in besonderer Weise zu erschüttern: Bereits in den Jahren 1896 und 1897 hatten Dragoner des 13. Regiments in der Kleinstadt Łancut gegen Juden gewütet. Sie hatten Scheiben in jüdischen Häusern und der Synagoge eingeschlagen und einen Greis bewußtlos geprügelt. In der Nacht vom 1. auf den 2. August 1898 verübten Dragoner mehrere Verbrechen an jüdischen Bürgern der Kleinstadt Strusów und dem Dorf Warwarzynce. Kleine Gruppen von Soldaten zogen durch die Orte, zerschlugen mit ihren Säbeln und Reitstöcken Fensterscheiben und drangen in Wirtshäuser ein, wo sie zur kostenlosen Ausgabe von Speisen und Getränken nötigten. In Sieliska verhaftete die Gendarmerie zwei Menschen, die das Feld eines Landarbeiters verwüstet hatten, weil dieser bei einem Juden gearbeitet hatte.

Aus Tyczyn berichtete ein Gendarmerie-Postenführer von Briefen, die an öffentlichen Orten aufgehängt werden sollten und die Feldarbeiter aufforderten, ihre Arbeit niederzulegen, sofern sie bei Juden arbeiteten.

In Strzyzow stellten Beamte ein Plakat sicher auf dem geschrieben stand: „Achtung! 3. Juli 1903 um 12 Uhr in der Nacht mit Sensen und Beilen mit Hurra auf die Juden!“ Am Sonntag, dem 19. März 1905 um 18 Uhr zeigte eine von ihrem Dienstherrn vermisste 13-jährige Magd aus Mytoczka dem Gendarmen an, sie sei auf dem morgendlichen Weg zur Kirche in Zmigród von fünf Juden umzingelt und in das Haus eines Juden geschleppt worden. Später gestand das Mädchen, dass sie die Geschichte erfunden hatte, „um gegenüber ihren Herrschaften ihre verspätete Rückkehr zu rechtfertigen“. Zahlreiche Zeitungen griffen das Ereignis auf und verknüpften es mit allerorten in katholischen Landstrichen präsenten Ritualmordbeschuldigungen.

Ende und Aufbruch – Wohin?

Die Zahl der Juden in Galizien stieg überproportional von etwa 333.000 im Jahr 1850 auf 575.000 im Jahr 1869 und 871.000 im Jahr 1910. Dieses hohe Bevölkerungswachstum, eine einsetzende massenhafte Verarmung, Judenfeindschaft, Pogrome und die Front des Ersten Weltkriegs zwangen Tausende galizische Juden in die Emigration. Sie wanderten vor allem nach Amerika, Großbritannien, Argentinien, Deutschland, Kongresspolen und Rumänien aus und passten nicht zuletzt ihre Vor- und Familiennamen den dortigen Sprachen und Schreibweisen an.

Die jüdischen Auswanderer machten einen Anteil von 23,6 % an der Gesamtzahl aus und damit fast ein Viertel der Auswanderer - bei einem Anteil von 11 % an der Gesamtbevölkerung Galiziens. Unter den Juden war der Facharbeiter- und Handwerkeranteil am größten, allerdings gelangten sie mit wenig finanziellen Mitteln in die jeweils neue Heimat.

Zum Ende des Ersten Weltkriegs löste sich Österreich-Ungarn auf: Seine Teile machten sich entweder selbstständig oder traten Nachbarstaaten bei. Galizien schied per 30. Oktober 1918 aus der Monarchie aus; die dominanten polnischen Politiker erklärten das ganze ehemalige Kronland zum Teil des neuen polnischen Staates. Demgegenüber beanspruchten die Ukrainer den östlichen Teil Galiziens. So wurde Ende 1918 in Lemberg, das selbst eine polnische Bevölkerungsmehrheit hatte, aber in ukrainisch besiedeltem Gebiet lag, die Westukrainische Volksrepublik (Sachidna Ukrainska Narodna Respublika SUNR) ausgerufen. Diese konnte sich aber gegen die einmarschierende polnische Armee im Polnisch-Ukrainischen Krieg nicht halten, so dass auch Ostgalizien im Mai 1919 polnisch wurde. Diesem folgte 1920 der Polnisch-Sowjetische Krieg. Die drei sich über sechs Jahre aneinander reihenden Kriege zerstörten und entvölkerten Ostgalizien.

Das Magdeburger Recht – ein Positivum bei der Wahl des Auswanderungsziels?

1797 wurde in Galizien der „Urentwurf“ des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB) in Kraft gesetzt. Dadurch wurde die Geltung des sächsisch-magdeburgischen Rechts aufgehoben.

In der frühen Neuzeit wuchs die Zahl der Juden in Polen beständig. Eine der Ursachen dafür war die Immigration aus Westeuropa, wo Juden im 15. und 16. Jahrhundert vielfachen Repressalien und Verfolgungen ausgesetzt waren. „A.D. 1493 liess jener Herr Erzbischof [Ernst] aus eigener Machtvollkommenheit das Judendorf in der Vorstadt besetzen und zwang gleichsam an einem Tage durch die Seinen alle Juden nicht nur aus jenem Ort, sondern aus seinem ganzen Land auszuziehen.“ In England und Frankreich wurden die Juden bereits 1290 und 1394 ausgewiesen, in der Markgrafenschaft Meißen 1411 und der Landgrafenschaft Thüringen 1436.

Es ist paradox, dass die aus Magdeburg stammende städtische Rechtsordnung des 12. Jahrhunderts, die sich im Mittelalter und der frühen Neuzeit weit in das östliche Europa ausdehnte, den Juden rechtliche Vorteile bescherte.

Schon das erste königliche Privileg für die Juden in Polen aus dem Jahr 1264 hatte ihnen weitgehende wirtschaftliche Freiheiten zugestanden, das innerjüdische Recht (Halacha) sowie die Synagoge als Gerichtsort ausdrücklich anerkannt und damit einen eigenen jüdischen Rechtsraum begründet.

Eine mit dem Magdeburger Recht bewidmete Stadt schied aus dem zuvor gültigen Landrecht aus und erhielt eine eigene Stadtverfassung. Im Falle von strittigen Rechtsfragen wandten sich die Städte an den Schöppenstuhl in Magdeburg oder an eine Stadt, die ihrerseits als Oberhof fungierte, wie Krakau oder Olmütz.

Das Magdeburger Recht realisierte eine rechtliche Gleichstellung religiöser Gruppen. Eide wurden sowohl von jüdischen als auch christlichen Prozessteilnehmern geschworen und galten als wichtiges Beweismittel. Der Judeneid war auf die Bücher Mose zu leisten. „Juden waren angehalten, ein graues Obergewand zu tragen und barfuß zur Eidesleistung zu erscheinen. Des weiteren war ein in Lammblut getauchter Hut in der rechten Hand zu halten und ein spitzer Hut auf dem Kopf zu tragen.“

Im Magdeburger Recht sind folgende judenrechtliche Bestimmungen enthalten:

  • Die Entbindung von der Gewährschaftspflicht,
  • der königliche Judenschutz,
  • die strafrechtliche Gleichbehandlung bei Übergriff eines Juden auf einen Christen,
  • die Zuständigkeit des Judenrichters bei christlichen Klagen gegen Juden,
  • die Eidleistung von Juden vor der Synagoge,
  • das Zeugnisrecht bei Klagen um Geld mit Zeugen,
  • das Ritual und die Formel des Judeneids,
  • die Entschädigung eines Christen bei Verlust des Pfandes durch den Juden,
  • die Schuldhaft von Juden und ihren Vertretern,
  • das Zeugnisrecht bei Klagen um Geld ohne Zeugen,
  • das Zeugnisrecht bei Klagen um Körperverletzung und
  • das jüdische Klagerecht.

1253 wurde Posen/Poznań nach Magdeburger Recht bewidmet, Krakau 1257, Rzezow 1354, Lemberg 1356, Wilna 1387, Kaunas 1408, Kiew 1498 und Zamosc 1580. Die nächste Welle von Magdeburger Rechtsverleihungen an ukrainische Städte setzte nach der Union von Lublin im Jahr 1569 und der Eingliederung von Gebieten der heutigen Ukraine in die polnische Krone ein, woraufhin mehrere Dutzend Stadtgründungen vorgenommen wurden. Dieser Prozess setzte sich bis ins 17. Jahrhundert fort, wobei die meisten Städte in der Ukraine rechts vom Djnepr das Magdeburger Recht vor 1640 bekamen.

In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts existierten in 94 von inzwischen 226 städtischen Siedlungen in Kleinpolen jüdische Gemeinden, die sich unabhängig von der christlichen Stadtverwaltung organisierten. Jede Gemeinde verfügte über eine Selbstverwaltung, an deren Spitze der Rabbiner und die Ältesten (seniores) standen. In den königlichen Städten wurden die Ältesten durch landesherrliche Amtsträger, in den privaten Kommunen durch deren Besitzer bestätigt. Die Gemeinden hatten in der Regel eine eigene Synagoge, ein Ritualbad, eine Schule, ein Hospital und einen Friedhof.

Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts wuchs ihre Rolle im Handel zunehmend, sodass sie im 18. Jahrhundert in manchen Städten die alles beherrschende Position einnahmen und adlige Stadtbesitzer ihnen erlaubten, auch am Markt befindliche Häuser zu erwerben. In Tarnow/Tarnów [arrow Moses Horowitz stammt von dort] beispielsweise monopolisierten Juden den gesamten städtischen Handel und konzentrierten die Geschäfte daraufhin nicht um den Markt, sondern um die Hauptstraße im jüdischen Stadtviertel. In denjenigen Städten, die der Kirche gehörten, wohnten allerdings keine Juden, weil diese Kommunen über Privilegien De non tollerandis Judeis verfügten.

1867 wurde das Kaisertum Österreich in die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn umgewandelt und die jüdische Bevölkerung erlangte mit der Dezemberverfassung vom 21. Dezember 1867 die rechtliche Gleichstellung mit allen anderen Untertanen. Polnisch wurde in Galizien in Verwaltung, öffentlicher und privater Sphäre immer wichtiger und war ab 1867 sowohl Unterrichtssprache als „auch de jure die Sprache der gesamten internen und inneren Landesverwaltung“.

Ab den 1880er Jahren begannen die ersten galizischen Juden damit, die amtliche Änderung ihrer Vornamen zu beantragen und sie in christliche (polnische und deutsche) zu tauschen.

Magnet Magdeburg

Was machte Magdeburg für galizische Juden interessant? Es bleibt unklar, ob das Magdeburger Recht ideelle Auswirkungen hatte und sich im Bewusstsein der Juden als positive Erscheinung etablieren konnte. Alltägliche Pogrome im Umfeld und eine zunehmende Rechtsunsicherheit infolge der Auswirkungen des Versailler Vertrages, aber auch insgesamt sich verschlechternde wirtschaftliche Bedingungen in der Heimat, die Notwendigkeit angesichts großer Familien in der Fremde sein Glück zu versuchen, dürften Ausgangspunkt für den Entschluss gewesen sein, die Heimat zu verlassen. Magdeburg hatte sich als Verkehrs-Handelsknotenpunkt im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem Zentrum wachsender Industrialisierung entwickelt. Zahlreiche Unternehmen vor allem des Schwermaschinenbaus siedelten sich an, so die Buckauer Maschinenfabrik. 1850 folgte das Armaturenwerk Schäffer & Budenberg und 1855 die Schwermaschinenfabrik Hermann Gruson. Rudolf Ernst Wolf eröffnete 1862 eine Maschinenfabrik, die neben der Armaturenfabrik Polte zu den führenden Munitionsfabriken wurde und 1886 nahm Fahlberg-List die weltweit erste Saccharinfabrikation auf. Nach Reichsgründung 1871 setzte sich diese Entwicklung kontinuierlich fort, so daß 1880 bereits 88 Maschinenfabriken und Eisengießereien existierten. 1893 wird der Handelshafen in Betrieb genommen, der für den Umschlag von Zucker und Salz zum bedeutendsten Hafen wird. Das Grusonwerk wurde nach dem Krupp-Werk in Essen zum zweitgrößten Waffenproduzenten in Deutschland. Nach Kriegsende gehörte Magdeburg mit über 300.000 Einwohnern zu den 20 größten Städten Deutschlands.

Die Attraktivität der rasch wachsenden Elbmetropole zog Tausende von Arbeitssuchenden an. Die galizischen Juden brachten für die wachsenden Anforderungen in der Basisversorgung der Bevölkerung optimale Voraussetzungen mit: sie waren vielsprachig, beherrschten in der Regel Polnisch, Ruthenisch, Jiddisch und Deutsch, verfügten über Erfahrungen im Handel mit den Wertstoffen des Alltags. Ihre familiäre Verbundenheit garantierte einen flexiblen Einsatz im Arbeitsleben, überdies konnten sie als genügsam, flexibel und erfinderisch gelten. Sie konnten die Gesellschaft in der aufstrebenden Industriemetropole mit einer bislang weitgehend fehlenden wirtschaftlichen und menschlichen Substanz versorgen. Wie entschlossen die Zuwanderer waren, in Magdeburg einzuwurzeln, kann insbesondere der Tatsache entnommen werden, dass sie sich entschlossen, Familien am Ort zu begründen.

Die jüdische Gemeinde in Magdeburg hatte sich in Sprüngen entwickelt: 1817 zählte sie 330 Mitglieder, 1840 600, 1859 1.000, 1885 1.815, 1900 1.925, 1905 1.935, 1910 1.843, 1925 2.361, 1933 1.973 und 1939 726. Auffällig ist der signifikante Zuwachs in den Zeiträumen 1817-1840, 1859-1885 und 1910-1925. Insbesondere die Zuwächse im Zeitraum vom 1859-1885 und 1910-1925 dürften auf die wachsende Industrialisierung sowie auf die Auswirkungen des Versailler Vertrages zurückzuführen sein. Bezogen auf die Einwanderung der galizischen Juden nach Magdeburg findet dies seine Entsprechung, denn sie erfolgte überwiegend vor Ausbruch des 1. Weltkriegs 1910 sowie bei Kriegsende 1918, in Zeitspannen ausgedrückt zumeist in der Zeit von 1910 bis 1919 sowie in der Zeit von 1920 bis 1929, in geringerer Zahl während des Zeitraums von 1900 bis 1909. Michael E. Abrahams-Sprod konstatiert, dass von den im Juni 1933 in Magdeburg lebenden 1.973 Juden „748 resp. 37,9 % Immigranten waren“ (Abrahams-Sprod, Michael E.: „Und dann warst du auf einmal ausgestoßen!“ Die Magdeburger Juden während der NS-Herrschaft. Halle(Saale): Mitteldeutscher Verl., 2011, S. 26). Nach den mir vorliegenden Unterlagen stammen davon mindestens 63 Familien und Einzelpersonen, insgesamt 328 Personen aus Galizien. Betrachten wir die Orte in Galizien aus denen die Zuwanderung erfolgte, so ergibt sich folgendes Bild: Kolomea (12), Kalusz (12), Bohorodczany (9), Kolno (7), Rozniatow (7), Sieniawa (7), Kolno (6), Nowy Sacz (5), Sniatyn (5), Solotwina (5), Kniazdwór (4), Ldiziany (4), Dynow (3), Tarnow (3), Bircza (2), Bolszowce (2), Brzostek (2), Delatyn (2), Korczyna (2), Nadworna (2), Porohy (2), Przeworsk (2), Rzeszow (2), Strzyzów (2), Wornitza (2), Zagorcze (2).

Wie kam man überhaupt von Kolomea nach Magdeburg?

„Jemand der diese Strecke mit der Eisenbahn bereisen wollte, musste nur einmal die Grenze überschreiten - nämlich die von (österreichisch-)Galizien nach Preußen. Kein jüdischer Mensch wäre damals über Russisch-Polen gefahren, auch wenn es Luftlinie vielleicht näher gewesen wäre.

Je nachdem, ob man eher nördlich oder südlich in Galizien gelebt hast, wird man nördlich mit der Galizischen Carl-Ludwig-Bahn über Lemberg und Tarnow nach Krakau gefahren sein und von dort über den Grenzbahnhof Myslowitz nach Breslau und weiter über Liegnitz, Frankfurt (Oder), Berlin nach Magdeburg (nördlich).

Aus dem südlicheren Galizien - und Lemberg umfahrend - wird man auf der Galizischen Transversalbahn von Hussjatyn (Husiatyn) über Stanislau, Sambor, Grybow nach Podgorze (bei Krakau) gefahren sein und dann weiter über Krakau und von dort über den Grenzbahnhof Myslowitz nach Breslau und weiter über Liegnitz, Frankfurt (Oder), Berlin nach Magdeburg (nördlich). Grenzübergang hätte aber auch in Oswiecim (Auschwitz) sein können.“ (Mitteilung von Günter Regneri, Lokführer und Historiker)

Abrahams-Sprod dokumentiert die religiöse Aufspaltung der jüdischen Gemeinschaft in Magdeburg, die ihre Wurzeln in der nationalen Herkunft habe und die erst angesichts der Deportation der polnischen Juden am 27./28. Oktober 1938 augenfällig geworden sei. Die Unterschiede, die verschiedene Hindernisse für die Gemeinschaft als Ganzes darstellten, traten demnach - außer im regulären gesellschaftlichen Umgang - in der synagogalen und religiösen Praxis, in den gewählten Berufen, in den Wohnstätten und den kulturellen und gesellschaftlichen Sitten am stärksten hervor. So existierten drei eigenständige religiöse Gemeinden nebeneinander: die Synagogen-Gemeinde zu Magdeburg, der orthodoxe Betverein Ahawas Reim und die gleichfalls orthodoxe Jüdische Vereinigung Achduth (deren Vorsitzender zeitweilig Gustav Abosch, der Vater Heinz Aboschs, ist).

Allerdings finden sich galizische Juden sowohl als Angehörige z.T. in verantwortlicher Position in der Synagogengemeinde wie arrow Felix Kreisel;arrow Moritz Pressler gehört bis 1936 zu deren Repräsentanz, Feiwel Rostholder aus Kniazdor ist von 1928-1932 Beisitzer im Vorstand,arrow Moses Schreier aus Dynow 1919 auf der Wählerliste zur Repräsentanten-Versammlung zu finden. Andererseits steht arrow Ephraim Händler aus Nowy Zmigrod dem Schtiblech in der Blauebeilstr. 12 vor,arrow Moses Neumann aus Strzyzow ist Küster und Vorbeter bei Achduth,arrow Juda Weinberger aus Biala aktiv in der Leitung der zionistischen Ortsgruppe.

Die meisten Mitglieder der Synagogen-Gemeinde gehörten - so Abrahams-Sprod - der Mittel- und Oberschicht der Magdeburger Gesellschaft an, die meisten Mitglieder der chassidischen Schtiblech der unteren Mittelschicht und einige der Arbeiterklasse.

Zu den Ausnahmen zählt er Hermann Broder, den Mitinhaber des Kaufhauses Gebrüder Barasch, und den Bekleidungseinzelhändler Pinkas Frühman, die beide allerdings nicht aus Galizien stammten. Tatsächlich wäre an dieser Stelle mindestens der aus Sieniawa stammende arrow Salomon Hornig zu nennen, dessen Eiergroßhandlung sich seit 1897 zur führenden in der Provinz Sachsen entwickelte und im großen Stil aus Dänemark, Holland, Polen und Ungarn importiert. 1916 wird Hornig Mitinhaber der Lebensmittelverteilungsstelle der Provinz und seine Firma von Bedeutung in der staatlichen Nahrungsmittelbewirtschaftung im Ersten Weltkrieg.

Oder die Familie Biener, die sich an daran wagte, ein Möbelhaus und einen Elektrik-Großhandel zu betreiben, die arrow Drechslers, die ein Gummiwarenhaus, Fahrradgeschäft und einen Schokoladenladen führten, nicht zu vergessen Schriftsteller wie die Brüder arrow Abraham Brustawitzki und arrow Max Brusto

Von Abrahams-Sprod befragte Zeitzeugen präferieren die Einschätzung, dass „viele dieser Leute kleine Geschäfte besaßen oder im Textilhandel tätig waren; viele verkauften sogar auf der Straße.“ (Abrahams-Sprod, S. 31)

Tatsächlich geben 64 von 95 der berufstätigen galizischen Juden Kaufmann in unterschiedlichen Branchen als Betätigung in Magdeburg an.

Auch geografisch macht Abrahams-Sprod eine Trennung beider Gruppen aus. Die meisten Mitglieder der Schtiblech wohnten demnach in der Gegend, in der sie auch arbeiteten, d.h. in der Nachbarschaft der Jakobstraße, die Mitglieder der Synagogen-Gemeinde mehrheitlich in den grünen, wohlhabenderen Vierteln am nördlichen Stadtrand oder aber in anderen Gegenden ihrer Wahl, oftmals dann geografisch getrennt vom Rest der Gemeinschaft, wie z.B. in Sudenburg. Auch zur Fundierung dieser Einschätzung kommen Zeitzeugen zu Wort: „Wir sahen sie selten. Sie waren unsichtbar. Diese Leute hatten nichts mit uns gemeinsam. Sie waren Migranten und waren für unseren schlechten Ruf verantwortlich. Wir waren gute Deutsche. Sie wohnten in so etwas wie einem Ghetto. Wenn man in die Jakobstraße ging, konnte man sicher sein, auf einen polnischen Juden zu treffen. Mit denen verkehrte man einfach nicht. Es gab keine Feindseligkeit zwischen den beiden Gruppen. Die deutschen Juden haben sie jedoch immer ein bisschen von oben herab behandelt. Und sie sind in Lumpen gekommen und dann haben sie nicht lange gebraucht, bis sie ein Geschäft hatten, das dann bald Pleite fing. Und das wurde dann auf die Frau umgeschrieben. Die haben lauter solche komischen Sachen gemacht, die wir guten Deutschen niemals gemacht hätten.“ (Ebenda, S. 31-32)

Tatsächlich lässt sich im Umfeld der Jakobstraße eine größere Wohnpräsenz galizischer Juden verorten, neben der Jakobstr. (22) vor allem in der Tischlerkrugstr. (30) und der Rotekrebsstr. (15), allerdings nahezu gleich ist man - dort auch mit Geschäften - auf dem Breiten Weg (26) und der Otto-von-Guericke-Str. (12) vertreten.

„Die Mitgliedschaft in den jüdischen Jugendgruppen in Magdeburg entsprach im Allgemeinen der Glaubenszugehörigkeit und den Identitäten der Eltern. In der Regel gehörten die Kinder der Mitglieder der Synagogen-Gemeinde einer oder auch allen nicht zionistischen Gruppen an. Zu diesen zählten der Jüdisch-liberale Jugendbund 'Heimat', der sich irgendwann vor dem 1 Juni 1933 in Jüdisch-religiöser Jugendbund 'Heimat' umbenannte hatte, der 'Ring', Bund deutsch-jüdischer Jugend, der 1936 gezwungen wurde, sich in 'Ring', Bund Jüdischer Jugend, umzubenennen und der Jugendflügel der Sportgruppe des Reichsbunds jüdischer Frontsoldaten, auch als 'Der Schild' bekannt. ... Die Kinder der Mitglieder der Schtiblech gehörten gewöhnlich einer oder auch mehreren der zionistischen Jugendgruppen an. Belege bestätigen die Existenz von Habonim-, Hechaluz-, Makkabi- und Misrachi-Jugendgruppen.“ (Ebenda, S. 176)

"Die Mitgliederzahlen der zionistischen Jugendgruppen Habonim, Hechaluz, Makkabi und Misrachi waren niedriger als die Mitgliederzahlen der nicht zionistischen Gruppen. ... Nur wenige Kinder aus deutsch-jüdischen Familien gehörten ihnen an an, während die Mehrheit der Mitglieder aus osteuropäischen Familien stammte. ... Als Sportgruppe war Makkabi größer als Habonim. Im Hinblick auf gesellschaftliche Aktivitäten war Habonim jedoch bedeutender. Die meisten, die Mitglied der Habonim waren, waren gleichzeitig bei Makkabi für sportliche Aktivitäten organisiert. Frühere Mitglieder der Habonim konnten sich besonders gut daran erinnern, dass die Gestapo die Gruppe regelmäßig kontrollierte und besuchte. Hemmi Freeman, der ein begeisterter Sportler war, erinnerte sich, dass zu den Sportaktivitäten, die der Jüdische Turn- und Sportverein Bar Kochba, die Magdeburger Außenstelle der Makkabi, organisierte, 'Fußball, Leichtathletik, Springen, Diskus und Turnhallenbetrieb im Winter' zählten. Diese Jugendgruppe wurde im August 1934, die übrigen zionistischen Jugendgruppen im Juli 1938 aufgelöst." (Ebenda, S. 180-181)

Auch Gewohnheiten und Lebensformen werden als grundlegend unterschiedlich charakterisiert. Auch dazu eine Zeitzeugin: "Dieses Mädchen, mit dem ich befreundet war, Miriam Kohl, war polnisch, und als ich das erste Mal zu ihnen nach Hause eingeladen war und sie die Tür öffneten, dachte ich, ich falle um. Der Knoblauchgestank wirft dich einfach um! Es war so schlimm, und ich wusste nicht, wie ich da wegkommen konnte. Bei uns zu Hause gab es keinen Knoblauch, bei uns wurden nicht einmal Zwiebeln gegessen! Ich meine, wenn ich meine deutsch-jüdischen Freunde besuchte, gab es so etwas nicht. Und die Mutter sah so komisch aus. Sie sah wie ein Nebbich aus! Und wenn man dann aber eine solch große Wohnung wie sie hatte, dann konnte man unmöglich arm sein. Aber das ist genau der Unterschied zwischen den deutschen Juden und den polnischen Juden. Wenn es ihnen ziemlich gut ging, waren sie gut gekleidet, sahen sie einfach gut aus; aber die Polen sahen alle gleich aus. Ganz egal, wie gut es ihnen ging." (Ebenda, S. 33)

Selbst unter der Bedingung der Zwangsverweisung in Judenhäuser Ende 1939 setzten sich Ressentiments gegen die galizischen Juden fort. Die Familie Freiberg war „schwer geschockt, als das Gestapa anordnete, dass sie in das 'Judenhaus' in der Brandenburger Str. 2 a ziehen mussten. Der jüngste Sohn der Freibergs erinnerte sich an seine Gefühle, als sie umzogen 'Wir wollten da nicht hin. Das war der erste Zwangsumzug. Es war ein viertklassiges Hotel. Es wurde von einer jüdischen Familie [der Familie arrow Brustawitzki] betrieben, die aus dem Osten stammte, und es war als ziemlich dreckig verschrien. Wir hassten die Vorstellung, dorthin ziehen zu müssen, aber wir hatten keine Wahl. Da wohnten so zirka dreißig, vierzig Personen. Wir hatten nur ein Zimmer, oder vielleicht auch zwei kleine. Ich weiß, es war irgendwie oben und die Toilette auf halber Treppe. Die musste man sich mit vielen anderen Leuten teilen. Es gab den üblichen Streit zwischen Nachbarn. Leute unterschiedlicher Herkunft, die gegenseitig aufeinander herabschauten - es gab nichts, was es nicht gab - polnische Juden, deutsche Juden.“ (Ebenda, (S. 247)

„Ostjuden“ - immer ein Thema

3. März 1920: „Schieberrazzia in Berlin. In Berlin haben sich nach der Revolution Zehntausende von Flüchtlingen aus Polen und Galizien, zum allergrößten Teil Ostjuden angesammelt. Diese Elemente halten sich unangemeldet in Berlin auf und leben durchweg vom 'Schieben'“. (Amts- und Anzeigeblatt für den Amtsgerichtsbezirk Eibenstock und dessen Umgebung. 67. Jg. 1920, Nr. 51, 3. März, S. 3)

18. April 1921: „... warnte [Dr. Max] Naumann vor den Bestrebungen gewisser Schichten, das Judentum zu vertiefen, denn diese Vertiefung bedeute in Wirklichkeit eine Vergrößerung der Kluft zwischen nichtjüdischen und jüdischen Deutschen. Alle diese Bestrebungen führten direkt zum Zionismus, den der Verband (ostjüdischer Organisationen) ebenso entschlossen bekämpfe wie den deutschvölkischen Nationalismus.“ (Kölnische Zeitung. 1921, Nr. 280, 18. April, Morgen-Ausgabe, S. 2)

2. Juni 1921: „... hat der preußische Minister des Innern Domynicus einen Erlaß herausgegeben, nach dem alle lästigen Ausländer, die bei irgendwelchen Straftaten oder Vergehen ertappt werden, ohne weiteres - d.h. ohne die Strafverfolgung und die eventuelle gerichtliche Verurteilung abzuwarten - unverzüglich ausgewiesen oder in das dafür errichtete Konzentrationslager in Stargard (Pom.) interniert werden sollen. Der Erfolg dieses Abwehrkampfes in der letzten Woche war der, daß rund 300 Personen dieser Art in das Konzentrationslager allen aus Groß-Berlin überführt wurden. Von der genannten Zahl sind 95 Prozent Ostjuden.“ (Der Turm. 2. Jg. 1921, Nr. 165, 21. Juni, S. 6)

Der Turm. 2. Jg. 1921, Nr. 165, 21. Juni, S. 6

18. März 1924: „Allein in Berlin entfallen 80. v. H. aller von Ausländern verübten Verbrechen nach der Statistik des Polizeipräsidiums auf Ostjuden. Früher waren alle diese lästigen Ausländer im Lager Kottbus interniert. ... Es würde gar nichts nützen, sie gewaltsam über die polnischen Grenzen zu bringen, denn die Polen würden sie postwendend wieder hinauswerfen.“ (Kölnische Zeitung. 1924, Nr. 196, 18. März, Morgen-Ausgabe, S. 1)

10. Juli 1924: „Der Verband ostjüdischer Organisationen hat in Berlin eine 'Reichskonferenz' abgehalten, an der auch eine Reihe Berliner Juden teilgenommen hat, die nicht gern als jüdischnational bezeichnet werden wollen. ... Schließlich wird in entgegenkommender Weise zum Ausdruck gebracht, daß sich das in Deutschland lebende Ostjudentum in keiner Weise in die politischen Verhältnisse Deutschlands einmischen wolle, daß es vielmehr nur die Wahrung seiner rechtlichen Interessen erstrebe ...“ (Bielefelder Abend-Zeitung. 2. Jg. 1924, Nr. 159, 10. Juli, S. 2)

21. Dezember 1924: „... in Verbindung mit dem Vordringen des Zionismus und dem durch den Zionismus geförderten Ueberhandnehmen der Einwanderung gefühlsfremder Elemente aus dem Osten sieht der Redner [Dr. Max Naumann, der Vorsitzende des Verbandes nationaldeutscher Juden] den tieferen Grund dafür, daß seit der Emanzipation nun schon zum zweiten Male eine judenfeindliche Welle über Deutschland geht.“ (Hannoverscher Kurier. 76. Jg. 1924, Nr. 598, 20. Dezember, Abend-Ausgabe, S. 38)

23. Juni 1927: „In der 'Standarte' vom 24. Juli d.J., dem in Magdeburg erscheinenden Organ des radikalen Stahlhelmflügels ist folgende Briefkastennotiz zu lesen: 'Sie dürfen den preußischen Innenminister Grzesinski nicht als zugewanderten Ostjuden oder Pollaken beschimpfen. Er ist nach unseren Ermittlung ein Sohn der unverehelichten Tochter des Ratsdieners Ehlert in Treptow a.d. Tollense, die damals bei dem Kaufmann Cohn in Stellung war.'“ (Vorwärts. 44. Jg. 1927, Nr. 344, 23. Juni, S. 2)

28. Februar 1930: Die V. Reichskonferenz der ostjüdischen Organisationen in Magdeburg beschließt, dass „Ostjuden die Verpflichtung“ haben, „an allen Arbeiten im jüdischen Gemeindeleben teilzunehmen, ihren Einfluß auf die Ausgestaltung des jüdischen Lebens in Deutschland innerhalb der jüdischen Gemeinschaft auszuüben. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die ostjüdischen Organisationen im Reich dahin streben, in sämtlichen jüdischen Körperschaften, insbesondere in den jüdischen Gemeinden entsprechend ihrer Stärke, vertreten zu sein.“ (Leipziger Jüdische Wochenschrift. 3. Jg. 1930, Nr. 9, 28. Februar, S. 6)

Wie endeten galizische Juden aus Magdeburg?

Als Todesstätten sind belegt:

Auschwitz 57
Treblinka 18
Warschau 12
Theresienstadt 9
Buchenwald 6
Belzec 5
Polen (ungeklärte Umstände) 25

 

 Am 28. Oktober 1938 wird die Familie arrow Erreich, die Eltern Beile Bela und Jacob, die 9-jährige Margarete Margot und der zweijährige Moshe Manfried, im Rahmen der so genannten „Polen-Aktion“ wie 17.000 weitere Juden polnischer Staatsangehörigkeit nach Neu Bentschen/Zbąszyń abgeschoben. Die Bedingungen vor Ort sind vor allem in den ersten Tagen und Wochen katastrophal. Allmählich entstand ein Auffanglager mit Notunterkünften, in denen mehr als 8.000 Menschen teilweise monatelang festsaßen. Jüdische Hilfsorganisationen, wie z. B. das American Joint Distribution Committee, unterstützten sie. Den Erreichs gestatteten die polnischen Behörden die Weiterreise ins Landesinnere und sie kehrten in ihren Heimatort Korczyna zurück.

Ende September 1939 besetzen deutsche Truppen den Ort. Zu den ersten Maßnahmen gehört, dass sie die Synagoge als Pferdestall nutzen; jüdische Wohnungen und Geschäfte werden geplündert, die jüdische Bevölkerung zur Zwangsarbeit herangezogen – so auch Jacob Erreich, der auf dem Flugplatz eingesetzt wird. Ende Dezember 1939 ordnet die deutsche Militärführung an, dass alle jüdischen Männer und Frauen auf der Straße eine weiße Armbinde mit blauem Davidstern am rechten Arm zu tragen haben; im Januar 1940 wird die Errichtung eines Judenrats angeordnet, zu dem auch Jacob Erreich gehört.

Am 11. August 1942 wird Korczyna von Deutschen, Ukrainern und polnischen Kollaborateuren umstellt, die Juden werden aus ihren Wohnungen getrieben, wer zögert, wird sofort erschossen. Am Nachmittag selektiert die Gestapo die Alten, Kranken und Schwachen, die sofort auf Lastwagen zur Hinrichtung abtransportiert werden. Die Zurückbleibenden – darunter die Erreichs - müssen zum Bahnhof in Krosno marschieren, von wo sie nach Bełzec deportiert und dort in der Gaskammer mit Kohlenstoffmonoxidgas ermordet werden.

Die Deportation nach Belżec. Foto: Museum and Memorial Site in Bełżec

Die Deportation nach Belżec. Foto: Museum and Memorial Site in Bełżec

Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs lebten in Kołomea 44.000 Menschen, darunter 15.000 Juden. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs stieg die Zahl der Juden in der Stadt durch den Zustrom von Flüchtlingen aus den von den Deutschen besetzten Gebieten um mehrere Tausend. Im Juli 1941 ging die Stadt von der sowjetischen in die deutsche Besatzung über.

Am 12. Oktober 1941 verhafteten die deutsche Armee und die ukrainische Polizei fast 3.000 Juden, die in den nächsten Tagen im Wald nahe dem Dorf Szeparowce erschossen wurden. Die „Aktion“ wurde am 6. November 1941 wiederholt. Am 23. Dezember 1941 wurden etwa 1.000 Menschen inhaftiert. Sie wurden am Ort früherer Hinrichtungen erschossen. Im März 1942 richteten die Deutschen drei Ghettos ein, in denen sie fast 18.000 Menschen unterbrachten. Im April 1942 wurden etwa 5.000 und im September 1942 fast 7.000 von ihnen in das deutsche Vernichtungslager der Nazis in Bełzec transportiert oder vor Ort erschossen, am 20. Januar 1943 weitere 2.000. Zu ihnen gehörten auch die Mutter von Max Rosenheck und sechs seiner Geschwister. Die bisher überlebenden Juden wurden in mehreren Häusern versammelt und am 2. Februar 1943 erschossen.

 

Welche Exilländer konnten erreicht werden?

Palästina 28
USA 23
England 14
ungeklärt 23

 

In den Jahre 1933 bis 1936 war Palästina das wichtigste Exilland für Flüchtlinge aus Hitlers Machtbereich. Unter den Einwanderern waren auch viele Kinder und Jugendliche, die von ihren Familien getrennt mit der Jugend-Alija ins Land kamen. Oft fanden sie Aufnahme in einem Kibbuz, den ländlichen Kollektivsiedlungen der Zionisten sozialistischer Orientierung. So auch Juden, die aus Magdeburg entkommen konnten.

Magdeburger Juden im Kibbuz

arrow Josef Gartenberg, der Sohn von Rachela und Isak Gartenberg, die aus Witwica und Gorlice stammen, schließt sich dem Kibbuz Shivat Borochow, nach dem Gründer der zionistisch-sozialistischen Partei „Poale Zion“, Leo Borochow, benannt, 1939 nach seiner Ankunft in Palästina an.

arrow Siegfried Kürschner, später Saul Kirschner, Sohn von Margarete und Louis Kürschner aus Schlochau und Wongrowitz, schließt sich dem Kibbuz Shoval in der nördlichen Negev-Wüste nördlich Bersheva an, 1946 als einem von elf Außensiedlerposten gegründet. Die Gründer waren Pioniere aus Südafrika und in Israel geborene Jugendliche. vornehmlich der internationalen sozialistisch-zionistischen Jugendorganisation Hashomer Hatzair angehörend.

Der sozialistisch-zionistisch ausgerichtete Kibbuz Giv'at Brenner, der größte Kibbuz in Israel, bei Rechovot südlich von Tel Aviv gelegen, wurde 1928 von überwiegend jungen Menschen aus Russland und Polen auf Land der Jewish Agency gegründet. arrow Debora Weinblum, verh. Gershuni, Tochter von Ruchla und Chaim Hirsch Weinblum aus Sosnowiec und Niedzieliska, lebte in dem Kibbuz, bevor sie sich 1940 mit ihrem Mann Yitzhak dem Kibbuz Afikim anschloss. Der Kibbuz Afikim, drei Kilometer südlich des Sees Genezareth gelegen, wurde von russischen Juden, Hashomer Hatzair angehörend, 1932 errichtet.

Der Kibbuz Tirat Zvi, 1937 gegründet, ist ein religiöser Kibbuz im Beit She'an-Tal, zehn Kilometer südlich der Stadt Beit She'an und des Sees Genezareth, westlich des Jordan an der Grenze zum Westjordanland. Die Gründer waren Juden aus Deutschland, Polen und Rumänien. Trude Meiri, geb. Kreisel, die Tochter von Ronie und Abraham Kreisel aus Brody und Radautz, gelang die Flucht und kam 1946 nach Palästina, wo sie sich Kibbuz Tirat Zvi anschloss.

Der Kibbuz Rodges (auch Kvutzat Rodges), 1929 ursprünglich in Rodges in der Nähe von Fulda von Mitgliedern der zionistischen Jugendorganisation Bachad (Brith Chaluzim Datiim – Verband religiöser Pioniere), die der orthodoxen religiös-zionistischen Misrachi-Bewegung zuzuordnen ist, gegründet, fand seine Fortsetzung 1931 in der Nähe von Petah Tikva östlich von Tel Aviv. Gina Neumann, die Tochter von Chana und Moses Aron Neumann aus Korzenic und Strzyzów, schließt sich nach gelungener Flucht dem Kibbuz an.

Der Kibbuz Lavi, 1949 von Jugendlichen, die im Rahmen des „Kindertransporte“ von Deutschland nach England transferiert wurden und in der britischen Chalutzim Datiim (Bachad)-Bewegung ausgebildet wurden, gegründet, ist ein religiöser Kibbuz in Untergaliläa in der Nähe der Stadt Tiberias im Norden Israels. Salomon Neumann, Sohn von Chana und Moses Aron Neumann, in England in der Jugend-Alijah aktiv, ehe er 1947 mit der „Exodus“ nach Palästina gelangt, schließt sich dem Kibbuz an.

Schlussbemerkung

"Wenn wir heute ein wenig mehr über die aus Galizien stammenden Juden, ihren Tod, aber auch ihr Leben in der Diaspora und den Verlust, den die Stadt Magdeburg erfahren musste und der sie noch heute fehlen, erfahren haben, so ist das gut."

Das sagte die 24-jährige Hana Kraus, Urenkelin des überlebenden Ehepaars Rosenheck bei der Verlegung der Stolpersteine für ihre Familie am 10. Oktober 2023 hier in Magdeburg.

Und weiter: "Heute sind wir hier, um meine Familie zu ehren, und wir sind dankbar für diese Gelegenheit. Heute gedenken wir meiner Großmutter und ihrer Familie, ich gedenke dem Fakt wie ähnlich doch die Leben ihrer Vorfahren waren und wie diese Kontinuitätslinie bei ihr und ihren Eltern und Geschwistern endet. Wie schwierig und anders ihr Leben war, erst aus der Heimat zu fliehen, um dann im Exil leben zu müssen. Wie viele andere dachte sie: Wie kann man nach all dem, was passiert war zurückkehren? Ich denke daran wie sehr das Leben meines Vaters und wie meines ist, weil sie vor einer langen Zeit hier von Magdeburg fliehen musste. Die Vergangenheit kann nicht geändert werden. Was passiert ist, ist passiert. Durch das Stolperstein-Projekt wird die Geschichte meiner Familie nach Magdeburg und nach Deutschland zurückgebracht und das ist wunderschön. Heute fühle ich ein wenig Seelenfrieden. Im Namen der Familie, vielen Dank."

Und später in einem Brief: "Ich hoffe, dass ich mein ganzes Leben lang weiterhin zu Besuch nach Deutschland komme und vielleicht eines Tages in Deutschland leben werde."

Mehr muss nicht gesagt werden!

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Verwendete Literatur (soweit nicht vorstehend explizit angeführt)

  • Alicke, Klaus-Dieter: Lexikon der jüdischen Gemeinden im deutschsprachigen Raum. Bd 2 Großbock - Ochtendung. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2008
  • Bily, Inge, Wieland Carls u. Katalin Gönczi: Sächsisch-magdeburgisches Recht in Polen. Untersuchungen zur Geschichte des Rechts in seiner Sprache. Berlin/Boston: De Gruyter, 2011
  • Buchen, Tim: Antisemitismus in Galizien. Agitation, Gewalt und Politik gegen Juden in der Habsburgermonarchie um 1900. Berlin: Metropol, 2012
  • Czakai, Johannes: Nochems neue Namen. Die Juden Galiziens und der Bukowina und die Einführung deutscher Vor- und Familiennamen 1772-1820. Göttingen: Wallstein, 2021
  • Diner, Dan (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Bd 4 Ly-Po. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2013
  • Köster, Gabriele, Christina Link u. Heiner Lück: Kulturelle Vernetzung in Europa. Das Magdeburger Recht und seine Städte. Dresden: Sandstein, 2018
  • Mark, Rudolf A.: Galizien unter österreichischer Herrschaft. Marburg: Herder, 1994
  • Pacyna, Jana: Mittelalterliche Judenrechte. Norm und Anwendung im Magdeburger Rechtskreis (1250-1400). Halle: Mitteldeutscher Verlag, 2015
  • Spector, Shmuel: The Encyclopedia of Jewish Life Before and During the Holocaust. Vol. II K-Sered. Jerusalem: Yad Vasehem, 2001
  • Weck, Nadja: Staat, Raum und Infrastruktur: Wie die Eisenbahn nach Galizien kam. In: Zeitschrift für Verwaltungsgeschichte. Bd. 2. 1017, S. 230-248

Internetquellen

Magnet Magdeburg - Wie die Elbestadt Auswanderungsziel galizischer Juden wurde