Vorbemerkung
Dieser Aufsatz erschien zuerst als Nachwort zu Otto Gross: Von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe. Hamburg: Edition Nautilus 2000. Ich stelle ihn hier in leicht geänderter Form vor. Für ihren freundlichen Rat und Unterstützung möchte ich Jennifer Michaels, Grinnell, Iowa (USA) herzlich danken. Kommentare oder Hinweise bitte an
Im September 1911 waren sie nach München gekommen und wohnten in der Pension Führmann, von der bekannt war, daß man dort auch mal in der Kreide stehen konnte, die schwangere Margot und ihr 23-jähriger Ehemann Franz Jung. Lange ging das nicht gut - schon am 1. Mai 1912 sperrten die Führmanns sie aus. Sie bezogen eine Wohnung Pündterplatz 8 und konnten sich freuen, daß Erich Mühsam ein Auge auf Margot geworfen hatte und hin und wieder mit kleinen Beträgen aushalf, freilich ohne die gewünschte Gegenleistung zu erhalten. Jung hatte sich an der Ludwig-Maximilians-Universität immatrikuliert und studierte Nationalökonomie, will die Arbeit an einer Dissertation über "Die Auswirkungen der Produktionssteuer in der Zündholzindustrie" wieder aufnehmen, und begibt sich - zu Mühsams Schreck - in dessen Revier: am 1. Juni nimmt er mit Margot an der Sitzung der "Tat"-Gruppe teil. Mühsam notiert: "Nun kommen Leute wie Klein und Jung in die Gruppe, innerlich verwahrloste Menschen, zu solchen, für die innerliche Festigkeit gerade das Lebensbedürfnis ist, das sie zu uns führt" (1).
Für den Platzhirsch soll es noch schlimmer kommen: am 31. August vermerkt er: "Das letzte Mal war ich nicht dort - (...). Da hat, wie mir berichtet wurde, Jung, Mariechens [so nennt Mühsam in vorläufiger Unkenntnis ihres wirklichen Vornamens Margot Jung] Ehemann, die Gelegenheit ergriffen, über mich herzuziehen. Feige und Gemein. Sobald ich ihn treffe, soll er meine Meinung hören. (2) Dazu bietet sich ihm zunächst keine Gelegenheit, er wird "von Otto Gross so stark okkupiert" (3), der ihn zur Behandlung seiner Komplexe zu einer Analyse drängt.
Gross, damals 34 Jahre alt, hat selbst eine schwere Zeit hinter sich: im März 1911 beging seine Patientin und Geliebte Sophie Benz in Ascona in seiner Anwesenheit Selbstmord, als Arzt der Fahrlässigkeit angeklagt, wird er steckbrieflich gesucht. Ihn, der die Auffassung vertritt, daß der Arzt das "ganze Leiden dieser ganzen Menschheit an sich selber" (4) trage, hat dieser Selbstmord in eine tiefe Krise gestürzt. Nicht nur die Geliebte und Patientin hat er versucht zu behandeln, für ihn war das Zusammenleben mit Sophie Benz, die Opfer einer Vergewaltigung war, damit verbunden, sich selbst zu erforschen und zu analysieren. Da sind Erinnerungen hochgekommen: "Da ist der Vater, dieser Hund. Der spukt in mir, der läßt mich die Zähne knirschen, hinaushorchen zum Fenster. Er wäscht sich im Nebenzimmer die Hände, ja - ich habe mit ihm Ball spielen müssen, ich bin dann weggelaufen und mußte mich übergeben - warum hatte ich nicht die Kraft, ihn niederzuschlagen ...". (5) Ein halbes Jahr hat er nach dem Selbstmord in psychiatrischer Behandlung verbracht, nach wie vor ist er drogensüchtig. Sophies Selbstmord war für ihn zudem ein Deja-vu-Erlebnis: schon 1906 hatte sich seine Patientin Lotte Chattemer (angeblich mit seiner Hilfe) suizidiert. Franz Jung wird später schreiben: "Als ich Otto Groß in München kennengelernt habe, war er für das tragische Ende eines Einzelschicksals bereits gezeichnet" (6).
Bevor Gross auf sein eigenes Schicksal zurückgeworfen wurde, wurde ihm ein anderes zur Nagelprobe: 1908 wollte er - auch gegen den Widerstand von Gustav Landauer und seinen Anhängern um den "Sozialist" - verhindern, daß seine Patientin Elisabeth Lang seiner Behandlung entzogen und den Eltern ausgeliefert wird: "Ich mache den Versuch, durch eine Intervention beim Vormundschaftsgericht, die Elisabeth Lang zu befreien, die jetzt von ihren Eltern in einer schandbaren Freiheitsberaubung zuhause gehalten wird. Die Aussichten scheinen gute zu sein - ich habe derzeit für den Advocaten das Gutachten herzustellen und darin nachzuweisen, dass das erzwungene Verbleiben im Elternhaus für sie gesundheitsgefährlich ist. - Wenn der Process gelingen sollte, so wäre das von einer grossen Tragweite. Es wäre die Erste gerichtliche Anerkennung eines Anspruchs auf Schutz der Individualität - oder wie Einer von den Juristen gesagt hat : der Nachweis, dass die Philister gesundheitsschädlich sind - - Dass der überhaupt erst erbracht werden muss - - -" (7). Der Versuch scheiterte.
Für Gross ist klar, daß "in der Familie der Herd aller Autorität liegt, daß die Verbindung von Sexualität und Autorität, wie sie sich in der Familie mit dem noch geltenden Vaterrecht zeigt, jede Individualität in Ketten schlägt" (8). Diese Familie, deren Strukturen krankmachen und die auf Vergewaltigung basiert, galt es zu zerschlagen. Gross, den der Vater lange Zeit bedrängt hat, in seinen Fußstapfen eine Universitätskarriere anzustreben und den dieser nun in München beobachten läßt, findet in Franz Jung einen Gefährten, eine autonome Persönlichkeit, die ihn - im Gegensatz zu vielen anderen - gegen eigene Widerstände aushalten will und kann. 1913 ziehen zunächst die Jungs nach Berlin, im Februar folgt ihnen Gross.
Jung liefert sich täglich heftige Auseinandersetzungen mit Margot, nicht selten auch gewalttätige und bemüht sich darum, daß Gross - wenn auch in niedrigeren Dosen - mit Drogen versorgt, mit dem Lebensnotwendigen versehen wird. Beiden werden Gross' Theorien zum Arbeitsansatz: "Der Revolutionär von heute, der mit Hilfe der Psychologie des Unbewußten die Beziehungen der Geschlechter in einer freien und glückverheißenden Zukunft sieht, kämpft gegen die Vergewaltigung in ursprünglichster Form, gegen den Vater und gegen das Vaterrecht" (9). Schon am 16. März 1913 erscheint in der "Aktion" die Ankündigung ihres gemeinsamen Projekts: "Sigyn", eine Zeitschrift, mit der sie "... von der Basis einer individuellen Psychologie aus Kultur- und Wirtschaftsprobleme darstellen [wollen] als Vorarbeit einer Sozialumwertung" (10). Gross publiziert eine Reihe von Arbeiten ("Zur Überwindung der kulturellen Krise", "Ludwig Rubiners "Psychoanalyse", "Die Psychoanalyse oder wir Kliniker", "Die Einwirkung der Allgemeinheit auf das Individuum", "Anmerkungen zu einer neuen Ethik", "Notiz über Beziehungen") und debattiert mit Ludwig Rubiner öffentlich in der "Aktion". Das Einzelschicksal, die Katharsis des Otto Gross, wird zum Befreiungsbemühen einer ganzen Generation: die Dresdner Expressionistin Bess Brenck Kalischer dokumentiert deren Hoffnungen in dem 1913 entstandenen Gedicht "Prometheus. Otto Gross":
"Urgestein, Blut durchsickert, / Zackige Fahne - Prometheus / Stürmt das Feuer der wachen Pforte, / Streut es jauchzend den Völkern der Erde, / Aber die Vielen betrüben die Glut, / Biss und Hass spaltet den Brand, / Verqualmtes Geschlinge. / Da rang sich Prometheus wieder dem Felsen, / Zwang von Neuem in jede Spalte / Heiligen Samen. / Nun quillt es leise / Um keusche Knospen, / Demütig zu lösen / Die Wehe der Welt" (11)
Doch einstweilen holt sie das Vaterrecht ein: "Sonntag, den 9. November mittags wurde der bedeutende Wissenschaftler Doktor Otto Groß in seiner Wilmersdorfer Wohnung (Berlin, Holsteinische Str. 19) von drei kräftigen Männern, die sich angeblich als Kriminalbeamte legitimiert haben sollen, besucht und bis zum Abend dort zwangsweise festgehalten" (12) wurde. Der Vater selbst, Hans Gross, sieht eine willkommene Gelegenheit des Abtrünnigen erneut habhaft zu werden: "... bekam ich plötzlich die amtliche Mitteilung des Polizeipräsidiums Berlin-Schöneberg vom 1. November 1913, Nr. J.b.G. 37/13, daß mein Sohn 'aus dem preußischen Staatsgebiet verwiesen wurde und nach Görlitz zwecks Ueberstellung über die Landesgrenze zugeführt wirdë. Da ich schon seit vielen Jahren wußte, daß mein Sohn geisteskrank ist, so konnte ich doch nicht zulassen, daß er einfach über die Grenze gejagt [...] wird. [...] Ich reiste nach vorheriger telephonischer Verständigung mit der Polizei in Berlin dorthin, verhandelte mit der Polizei, mit dem Berliner Psychiater, [...] und so wurde vereinbart, daß mein Sohn in Begleitung eines der ersten Psychiater von Berlin, Dr. Karl Birnbaum, bis Wien gebracht wurde, von wo ihn der Direktor der Landesirrenanstalt Klosterneuburg Dozent Dr. Berze übernahm und nach Tulln begleitete (13).
Franz Jung mobilisiert eine Gegenöffentlichkeit: schon am 20. Dezember erscheinen die Münchener "Revolution" und die Berliner "Aktion" mit Sondernummern, er selbst versendet mehr als 1.000 Exemplare an Universitäten, Bibliotheken, Buchhandlungen und Caféhäuser, im Januar 1914 nimmt sich auch die bürgerliche Presse des Falles an. Eine sichere Stütze für Jung ist Franz Pfemfert, der am 6. Januar nach Wien schreibt: "Lieber Herr Arthur Roessler: eine Tat ist zu tun. Die Wiener Arbeiter=Zeitung muss sofort (sofort!) in Sachen Otto Gross das Wort übernehmen." (14)
Otto Gross bleibt zunächst in der Privat-Heilanstalt Tulln interniert. Am 9. Januar 1914 wird er wegen Wahnsinns unter Kuratel gestellt. Doch der öffentliche Protest zeigt erste Wirkung: am 25. Januar wird Gross in die Landesirrenanstalt Troppau in Schlesien verlegt und Jung schreibt am 9. Februar an Heinrich F. S. Bachmair, daß es nun wohl zu einer Reihe von Prozessen kommen wird, "die auf dem Vorleben basieren" (15). Aus Troppau schreibt Otto Gross am 17. Februar an das k.k. Bezirksgericht Graz und "bittet um Erhebung eines Gutachtens der medizinischen Facultät zu Wien über seinen Geisteszustand" (16) - dem Vater als Kurator wird der Brief natürlich zur Kenntnis gebracht. Am 26. Februar bittet Franz Jung den Wiener Hof- und Gerichtsadvokaten Dr. Armin Fischl sich der Angelegenheit anzunehmen, es gelingt Gross ein Schreiben an Maximilian Harden aus der Anstalt zu schmuggeln, daß dieser in der "Zukunft" veröffentlicht. Am 8. Juli hat die Kampagne Erfolg: Franz Jung kommt in Troppau an. "Ich bin empfangen worden wie ein inspizierender Minister aus der Wiener Regierung" (17) und kann Gross, der zuletzt - trotz der Kuratel - in der Klinik als Assistenzarzt gearbeitet hat, in die Freiheit abholen.
Dieser Erfolg wird allerdings von einem Ereignis überschattet, das wenig Zeit läßt, ihn zu feiern: am 28. Juni sind der österreichische Thronfolger und seine Frau in Sarajevo einem Attentat zum Opfer gefallen. Am 28. Juli folgt die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien, am 1. 8. die deutsche Kriegserklärung an Rußland - der erste Weltkrieg ist ausgebrochen. Gross begibt sich nach seiner Entlassung nach Ischl und wird dort im einem Sanatorium von Wilhelm Stekel behandelt, reist später nach Wien und wohnt bei Grete, Mitzi, Nina und Anton Kuh. Im August meldet sich Jung, im Oktober Gross als Kriegsfreiwilliger.
Über die Motive der Kriegsbeteiligung Beider ist viel gerätselt worden. Sie sind Ergebnisse eines politischen Konzepts: für Gross wie für Jung stellte sich der Krieg als der gewaltigste psychische Befreiungsakt der Menschheit dar, "die heilsamste Massenentfesselung aller Komplexe" (18). Auf den Trümmern der Vaterrechtsgesellschaft, die am Ende dieses Krieges liegen sollten, würde die neue, freie Gesellschaft aufgebaut werden.
Doch der Krieg nahm schnell Formen an, die mit bisherigen Erfahrungen nicht in Einklang zu bringen waren und als deren Folge Jung bald wegen allgemeiner Erschöpfung und mit Beingeschwüren in ein Lazarett nach Züllichau gebracht wird. Dort stellen sich Kopfschmerzen, Angstzustände, Symptome eines Nervenleidens ein, für das Jung eine Säbelverletzung aus Studententagen verantwortlich macht. Er wird zur weiteren Behandlung nach Berlin gebracht. Im Dezember 1914 schließlich entfernt er sich unerlaubt von der Truppe, fährt nach Niederschlesien, später nach München und an den Tegernsee, nach Stuttgart und schließlich nach Wien - zu Otto Gross.
Diesen erreicht in dieser Zeit die Nachricht, daß sein Vater die Aufhebung der Wahnsinnskuratel und deren Umwandlung in eine beschränkte Kuratel wegen geistiger Anomalie beantragt hat. Offenbar hat der Vater ein Einsehen mit dem Sohn, der sich vermeintlich den Interessen des Vater(lande)s untergeordnet hat. Anfang 1915 wird Gross nach Wien evakuiert, tut Dienst im Blatternspital in der Triestergasse, verliert seinen Posten allerdings, als bekannt wird, daß er unter Kuratel steht. Am 8. Februar wird Jung in Wien verhaftet und nach Berlin gebracht, vom 10.- 15. März wird ihm dort der Prozeß gemacht, die Zeit vom 1. April bis 4. Mai verbringt er in der Psychiatrie in Berlin-Wittenau. Auf die Hilfe von Gross wird er - wie aus seiner Krankenakte hervorgeht - verschiedentlich zurückgreifen: er erwähnt, daß ihn Gross wegen Myopie (Kurzsichtigkeit) in Wien psychoanalytisch behandeln wollte und dieser Jungs "Nervosität zurückgeführt [habe] auf psycho-erotische Beziehungen zu der verstorbenen Schwester. Diese Beziehungen hätten Sexualscheu hervorgerufen und letztere wieder die allgemeine Neurasthenie u. Zerfahrenheit" (19). Den Mai und die ersten Wochen des Juni muß Jung noch im Spandauer Festungsgefängnis bzw. einer Kaserne verbringen, dann wird er - am 16. Juni - entlassen.
Zeit für ein neues Projekt: "Die freie Straße", als deren Mitarbeiter Otto Gross, Max Hermann-Neiße, Franz Jung, Richard und Fritz Oehring, Georg Schrimpf, Oskar Maria Graf und Elsa Schiemann verantwortlich zeichnen, erscheint in der ersten Folge, derweil Gross in Ungvar als Freiwilliger Dienst tut, ab Juli als landsturmpflichtiger Zivilarzt. Er setzt seine Bemühungen um Aufhebung der Kuratel fort und "... wendet sich nunmehr [am 22. November] zum zweitenmale an das löbl. [k.k. Bezirks-]Gericht [Tulln] mit der vertrauensvollen Bitte, seine hiermit unterbreiteten Einwände gegen das psychiatrische Gutachten vom 23. December 1913 einer entsprechenden Überprüfung zuführen zu wollen" (20) - Gross ist inzwischen Assistenzarzt am k.u.k. Epidemiespital Vinkovci in Slavonien. Am 9. Dezember stirbt sein Vater in Graz, seine Lebensbedingungen wird dies nicht erleichtern: das zuständige Gericht denkt nicht an eine Aufhebung der Kuratel, vielmehr wird ein neuer Kurator bestellt, der Verstorbene hat für diesen Fall bereits vorsorglich Vorschläge beim Gericht eingereicht. Grossë Gesundheitszustand verschlechtert sich. Zunächst wird er zwar als Landsturmassistenzarzt im Garnisonsspital Th. 221 in Temesvar Verwendung finden, dort aber bald als Patient in die Psychiatrische Abteilung eingewiesen und muß sich einer sechsmonatigen Entziehungskur unterziehen.
Jung hat sich derweil von Margot getrennt, lebt nun mit Cläre Oehring zusammen und publiziert Anfang 1917, kurz vor der russischen Februar-Revolution, seine "Technik des Glücks", als sechste Folge der Vorarbeit in der "Freien Straße" - es soll deren letzte Ausgabe sein: "Glück ist, (...), im Bewußtsein des Einzelnen die rhythmische Gemeinsamkeit im Erleben der Gemeinschaft, ein fortgesetzt pulsierendes Erleben, das, vom Bewußtsein in den Zustand und in das Sein verankert, Ruhe und Sicherheit ausdrücken würde" (21). "Ruhe und Sicherheit" - darum ist auch Gross bemüht, seine Lebensbedingungen scheinen sich zu verbessern: im Mai wird er von Temesvar in den Steinhof nach Wien verlegt, im September wird endlich die Wahnsinnskuratel in beschränkte Kuratel umgewandelt.
Während Jung sich im Folgejahr dem Spartakusbund anschließt, reist Gross, zumeist mit Mitzi Kuh und dem gemeinsamen Kind, zunächst nach Graz, dann nach Prag und Budapest. Im November ist er wieder in Wien, fordert - im Anschluß an Demonstrationen revolutionärer Arbeiter und Soldaten - bei einer Zusammenkunft "ziemlich weit draußen im siebenten Bezirk" für sich ein "Ministerium zur Liquidierung der bürgerlichen Familie und Sexualität" (22), bevor am 12. November die Rote Garde zum Angriff auf das Parlament antritt. In kurzer Folge erscheinen eine Reihe seiner Arbeiten (Die kommunistische Grundidee in der Paradiessymbolik; Orientierung der Geistigen; Zum Problem: Parlamentarismus; Protest und Moral im Unbewußten; Zur funktionellen Geistesbildung des Revolutionärs).
Am 15. Januar 1919 werden in Berlin Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ermordet, Jung am 18. Januar verhaftet, allerdings noch am gleichen Tag wieder freigelassen. Er tritt der KPD bei. Gross, der inzwischen sporadisch für "Das Forum" und "Die Erde" arbeitet, hält sich in München auf, versucht Kontakt zu den Räte-Revolutionären aufzunehmen - und zieht schließlich erneut nach Berlin, begibt sich erneut in die Obhut Jungs und wohnt bei ihnen in Friedenau.
Aus dieser Zeit rühren seine als Fragment erhaltenen Aufzeichnungen der Selbstanalyse. Sie greifen die zur Erzählung verdichteten Assoziationen auf, die Franz Jung als die von Gross in "Sophie" überliefert hat. Er sitzt über sich selbst zu Gericht, stimmt Jung zu, der Gross in seinen theoretischen Schriften nicht wiederzuerkennen vermag: "Die Bücher sind die richtige Selbstironie - Ironie auf den Vater und vor allem auf mich" (23). Es klingt wie eine Hommage an Jung, wenn er schreibt, "Ich muss beneiden, wo eine Zuversicht da ist und ein echter Glauben an Sieg und eine Liebe zum Leben - die so und nur so existiert ..." (24), denn Jung hat "die Sicherheit auch im offenen Kampf" (25). Gross fehlt diese Sicherheit, er fühlt sich schmutzig und "mit der Nase in den Dreck gesteckt" (26), aber ihm fehlt letztlich die Kraft, sich "immer und immer [zu] kontrollieren - und alle anderen ob sie nicht schon bemerken - - - "(27). Kindheitserinnerungen, derentwegen er zeitlebens von Schlaflosigkeit geplagt wird, nur bei Licht und (zur Sicherheit) in einen Teppich eingerollt schlafen kann, holen ihn ein, die Zeit in er er als Sechsjähriger "allnächtlich große Angst bekam und aus dem Fenster - III. Stock - herunterspringen wollte" (28), nur in der Zeit als der Vater Staatsanwalt-Stellvertreter in Leoben war, blieb er davon verschont. Das "Peppelemachen" (29) fällt ihm ein, daß er als "einen Spalt in ein Stück Fleisch zu hauen" (30) erfährt und sich künftig, wie der Vater angibt, erbrechen muß "wenn ihm Fleisch, Hirn etc. versteckt in eine Speise gerührt wurde" (31). "... ob sich ein Sadismus gegen Kinder nicht gegen ihn (den Vater) richtet??" (32) "Phallus paternus!" (33)
Gross' Hoffnung, seinem Trauma durch einen revolutionären Akt zu entgehen, nämlich "bis zum 45. Lebensjahr [zu] leben, dann möchte ich zugrunde gehen, u. zw. am liebsten bei einem anarchistischen Attentate" (34) erfüllt sich nicht. Er wird keinen "Staatsanwalt oder einen Obmann von Geschwornen der meine Freunde im Prozesse verurteilte, [...] töten, dabei auch selbst sterben" (35). Die Drogensucht nimmt ihm die Kraft zum Attentat und auch dazu, aus eigener Kraft und mit Hilfe von Ärzten und Freunden freizukommen. Am 13. Februar 1920 gibt der Krankenpfleger Hugo Mätschke beim Standesbeamten in Berlin-Pankow an, daß der "praktische Arzt, Doktor der Medizin Otto Groß, 42 Jahre alt, mosaischer Religion" (36) am gleichen Tag "vormittags um fünf Uhr verstorben sei" (37). "Er hatte sich eines Nachts in einen sonst unbenutzten Durchgang zu einem Lagerhaus geschleppt und ist dort liegengeblieben. Eine Lungenentzündung, verschärft durch völlige Unterernährung, konnte nicht mehr behandelt werden" (38).
Vergeblich wird man in regionalen und überregionalen Blättern nach Nachrufen auf Gross suchen. Franz Jung - so scheint es - verwandelt Trauer, oder wie er selbst sagt, "Bitternis" (39) in Energie, denn die gemeinsamen Hoffnungen scheinen sich zu erfüllen - in Sowjetrußland. Wie Gross sieht er dort "etwas vollkommen Erstmaliges" (40) entstehen. "Endlich: die Vorbedingung jeder sittlichen und geistigen Erneuerung der Menschheit ist die Notwendigkeit einer totalen Befreiung der werdenden Generation aus der Gewalt der bürgerlichen Familie - und auch die vaterrechtliche Familie des Proletariers ist bürgerlich! - durch das kommunistische Mutterrecht und aus der Anpassungsschule des Staates durch das System des revolutionären Unterrichts" (41).
Im April ist er maßgeblich an der Gründung der KAPD beteiligt. Um deren Thesen der Partei Lenins und der Kommunistischen Internationale darzulegen, entführt er kurzerhand zusammen mit Jan Appel den Fischdampfer "Senator Schröder", mit dem er im Mai im Hafen von Murmansk ankommt. Die Mission mißlingt, die Positionen der KAPD finden wenig Anklang. Bei seiner Rückkehr nach Deutschland im September wird Jung verhaftet und sitzt in verschiedenen Gefängnissen ein. Im Gefängnis in Breda findet er Zeit - es entstehen der Roman "Die Eroberung der Maschinen", der Essay "Die Technik des Glücks II. Teil" - und die Einleitung zur Otto Gross-Auswahl "Von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe". Am 3. Februar 1921 wird er - gegen Kaution und Auflagen - freigelassen, das Manuskript allerdings nicht - wie erhofft - im gleichen Jahr im Erich Reiss Verlag publiziert (42). Es verbleibt, wie die Gross'sche Selbstanalyse, in der Obhut von Cläre Jung.
Immer wieder kreist die Korrespondenz der Beiden, auch nachdem sie längst getrennt sind, um Gross. 1932 schreibt Cläre an Franz Jung: "Vor zehn Jahren habe ich zu Gross gesagt: 'Ich bin noch nicht auf meinem Höhepunkt angelangt. Einmal werde ich da sein' - und daran die Hoffnung geknüpft, die eben jeder Mensch für ein Leben hat, das er mit allen Kräften lebt. Was willst Du von mir? Ich bin der Ausdruck der Verwirklichung der von Gross angeregten, von Dir ausgesprochenen und vertretenen Theorien. Von allen Menschen, die je um uns waren, habe ich im Glauben an Deine Lehre gelebt und als einzige Religion der Beziehung lebendig gemacht. So habe ich Eure Forderung verstanden und sehe ich die Revolutionierung der Welt, die Schaffung des neuen Menschen: aus der analytischen Bewußtmachung und Erkenntnis der Zwang zur Entwicklung. Freimachen und unbedingtes Einsetzen aller Kräfte zur Verantwortlichkeit. Die unaufhörliche Steigerung der Persönlichkeit aus der dynamischen Kraft der Beziehung zur Gemeinsamkeit hin" (43).
In den Schriften Wilhelm Reichs meinte Jung später einen zweiten Otto Gross zu erkennen und beschäftigte sich noch an seinem Lebensabend mit Plänen, Gross Leben und Werk mit einer Radiosendung publik zu machen, auch wenn er von sich selbst meinte, für Groß "vielleicht nicht viel mehr als eine Figur auf dem Schachbrett seiner Gedankenkombinationen, die hin- und hergeschoben werden konnte" (44), gewesen zu sein. Er war viel mehr - Gefährte.
Das Phänomen Otto Gross, wie es Franz Jung zeitlebens beschäftigte, ist vielschichtig - und doch eindeutig: es symbolisiert die Suche nach der besseren Gesellschaft, nach der Auflösung von Geschlechterbeziehungen, die sich als unterdrückerisch erweisen, nach Utopien in Zeiten, denen tragfähige Konzepte und Sinnhaftigkeit fehlen.
1) Erich Mühsam: Tagebücher 1910-1924. Hrsg. von Chris Hirte. München 1994, S. 84
2) Ebenda, S. 94
3) Ebenda
4) Otto Gross: Die Psychoanalyse oder wir Kliniker, in: Die Aktion, Bd. 3. 1913, Sp. 631
5) Franz Jung: Sophie - Der Kreuzweg der Demut, in: Ders.: Expressionistische Prosa, Werke 8. Hamburg 1986, S. 119
6) Franz Jung: Der Weg nach unten. Hamburg 1988, S. 68
7) Brief an Frieda Weekley, in: Raimund Dehmlow (Hrsg.): Du Kreuz des Südens über meiner Fahrt. Briefe von Otto Gross an Frieda Weekley. Erscheint 2001
8) Otto Gross: Zur Überwindung der kulturellen Krise, in: Die Aktion, Bd. 3. 1913, Sp. 386
9) Ebenda, Sp. 387
10) in: Die Aktion, Bd. 3. 913, Sp. 639
11) Bess Brenck Kalischer: Prometheus. Otto Groß, in: Dies.: Dichtung. Dresden 1917 (Dichtung der Jüngsten. Bd I.), S. 40; den Hinweis verdanke ich Peter Ludewig, Berlin
12) in: Aktion, Bd. 3. 1913, Sp. 1091
13) Hans Gross: Der Fall des Dr. Otto Groß, in: Neues Wiener Tageblatt, 2. 3. 1914
14) Franz Pfemfert an Arthur Roessler (Wiener Arbeiterzeitung), 6. 1. 1914, in: Lisbeth Exner u. Herbert Kapfer (Hrsg.): Pfemfert. Erinnerungen und Abrechnungen. Texte und Briefe. München 1999, S. 218
15) zit. nach: Franz Jung: Werke. Bd. 9/1, S. 8
16) zit. nach: K.k. Bezirksgericht Graz an Herrn Prof. Dr. Hans Groß als Curator seines Sohnes, von dem Direktor der Schlesischen Landesirrenanstalt vorgelegt, Brief vom 17. 2. 1914
17) Franz Jung: Der Weg nach unten. Hamburg 1988, S. 84
18) Johannes R. Becher: Abschied. Berlin 1975, S. 376
19) Krankenakte Franz Jung. 1. 4. bis 4. 5. 1915, in: Sklaven, 1995, Nr. 16, S. 17
20) Dr. Otto Gross, derzeit Assistenzarzt am k.u.k. Epidemiespital Vinkovci, Slavonien, an das löbl. k.k. Bezirksgericht Tulln, Brief vom 22. 11. 1915
21) Franz Jung, Die Technik des Glücks. Teil 1. Psychologische Anleitungen in 4 Übungsfolgen. Berlin 1921, S. 70
22) zit. nach Josef Dvorak: Kokain und Mutterrecht. Die Wiederentdeckung des Otto Groß (1877-1920), in: Neues Forum, 1978, H. 295/286, S. 59
23) Otto Gross, "Selbstanalyse", in: Gross, Otto: Von geschlechtlicher Not zur sozialen Katastrophe. Hamburg 2000, S. 177
24) Ebenda
25) Ebenda
26) Ebenda
27) Ebenda
28) Josef Berze u. Dominik Klemens Stelzer: Befund und Gutachten über den Geisteszustand des am 15. Dezember 1913 über Auftrag des k.k. Bezirksgerichtes Tulln untersuchten Dr. Otto Gross (geboren 1877, zuständig nach Czernowitz, katholisch, verh. derzeit im Sanatorium Dr. Bonvicini, in: Gegner, 2000, H. 3, S. 25
29) Otto Gross, "Selbstanalyse", a.a.O.
30) Ebenda
31) Ebenda
32) Ebenda
33) Ebenda
34) Josef Berze u. Dominik Klemens Stelzer: a.a.O., S. 31
35) Ebenda
36) Standesamt Berlin Pankow, 1920, Nr. 130
37) Ebenda
38) Franz Jung: Der Weg nach unten. Hamburg 1988, S. 85
39) Ebenda, S. 90
40) Otto Gross: Zur funktionellen Geistesbildung des Revolutionärs, in: Räte-Zeitung, Bd. 1. 1919, Beilage Nr. 52
41) Ebenda
42) Nach Jungs Vorstellungen sollte der Band folgende Arbeiten von Otto Gross enthalten:
- Orientierung des Geistigen
- Über Klassenkampf
- Paradies-Symbolik
- Zur neuerlichen Vorarbeit
- Zur funktionellen Geistesbildung des Revolutionärs
- Anmerkung zu einer neuen Ethik
- Die Einwirkung der Allgemeinheit auf das Indidviduum
- Konflikt des eigenen und des Fremden
- Notiz über Beziehung
- Konflikt und Beziehung.
Ich vermute, daß mit "Über Klassenkampf" "Zum Problem: Parlamentarismus" [sic!] gemeint ist. Gottfried Heuer ist hingegen der Meinung, daß ein von Gross verfaßter Aufsatz mit dem Titel "Zum Solidaritätsproblem im Klassenkampf", der 1920 in der Zeitschrift "Die Erde" erscheinen sollte, gemeint ist (s. Gottfried Heuer: Auf verwehten Spuren verschollener Texte. Verlorene, wiedergefundene und neu entdeckte Schriften von Otto Gross. Zum gegenwärtigen Stand der Forschung, in: Raimund Dehmlow u. Gottfried Heuer (Hrsg.): 1. Internationaler Otto Gross-Kongress. Marburg/Hannover 2000, S. 198ff.); "Konflikt und Beziehung" dürfte "Über Konflikt und Beziehung", einem der "Drei Aufsätze über den inneren Konflikt" entsprechen. Die getroffene Auswahl dürfte mit verschiedenen Problemen, denen sich Jung im Gefängnis ausgesetzt sah, zusammenhängen: zum einen wird er sich auf die Arbeiten konzentriert haben, die ihm selbst bekannt waren und ihm wichtig erschienen, zum anderen wird es nicht einfach gewesen sein - auch mit Hilfe anderer - bibliographische Recherchen anzustellen. Daß nur einer der "Drei Aufsätze über den inneren Konflikt" von ihm benannt wird, stützt die Vermutung, daß sowohl diese Sammlung als auch der Aufsatz "Zur neuerlichen Vorarbeit: vom Unterricht" erst nach Gross' Tod veröffentlicht wurden und/oder ihr Erscheinen Jung noch nicht bekannt war.
43) Cläre Jung an Franz Jung, Brief vom Januar 1931, zit. nach: Fritz Mierau: Das Verschwinden des Franz Jung. Hamburg 1998, S. 280
44) Franz Jung: Der Weg nach unten. Hamburg 1988, S. 85