(1) (Otto) Richard (Hermann) Oehring entstammt einer protestantischen Familie und wurde am 16. Juni 1891 in Düsseldorf als Sohn des Telegrafendirektors Alfred Oehring und seiner Frau Johanna Antoinette geboren. Mit 17 Jahren geht er zusammen mit Alfred Wolfenstein in dieselbe Klasse des Luisenstädtischen Gymnasiums in Berlin. 1909 Abitur. Er zählt zum Freundeskreis der Dichterin Henriette Hardenberg und ihres Bruders Hans. Er nimmt ein Studium in München auf und stößt zusammen mit seinem Bruder Fritz zum Kreis um Erich Mühsam und die Gruppe “Tat”, der auch Oskar Maria Graf, Franz Jung und Georg Schrimpf angehören. Zurück in Berlin schreibt er als Wirtschaftsjournalist Beiträge für “Buchwalds Börsenberichte”. Ab 1912 arbeitet er für die "Die Aktion" und veröffentlicht dort eigene lyrische Werke. Die Novelle “Der Käfig” entsteht. 1913/1914 gehört er zusammen mit Gottfried Benn, Paul Boldt, Alfred Lichtenstein, Franz Pfemfert und anderen zu den Protagonisten der Autorenabende der "Aktion".

Richard Oehring

Oehring nimmt am 1. Weltkrieg, dem sein Bruder Fritz zum Opfer fällt, teil und wird in Brüssel als Sanitäter stationiert. Er erkrankt, kehrt nach Berlin zurück, wird allerdings nachgemustert und für wehrtauglich erklärt. Er wird erneut eingezogen, desertiert und erreicht durch Lohn- und Nahrungsverweigerung seine Entlassung. Am 13. Juni 1915 heiratet er Cläre Otto und gehört zusammen mit Franz Jung, Otto Gross und Georg Schrimpf zu den Mitherausgebern der Zeitschrift "Freie Straße", von der bis 1917 sechs Folgen erscheinen. Die Nummern 3 und 4 werden von Oehring herausgegeben.

Die Ehe scheitert, Cläre Oehring wird die Lebensgefährtin von Franz Jung. Oehring reist nach Wien zu Otto Gross, wo er auch Margarethe Kuh kennenlernt, die seine zweite Frau wird, sie heiraten am 22. November 1918 in Berlin, nachdem bereits am 19. März die gemeinsame Tochter Aurora Miriam, Mimi genannt, zur Welt kam und die Ehe mit Cläre am 31. Mai 1918 geschieden wurde. Oehring wird Mitarbeiter von Alfons Goldschmidts “Räte-Zeitung” und gehört mit Ernst Jacobi und Friedrich M. Minck zur "Rätegenossenschaft für wirtschaftlichen Aufbau". 1922 geht er vorübergehend in die Sowjetunion. Am 23. Mai 1923 schreibt Oehring - wieder in Berlin (Körnerstr. 7) - an "Genossen" (Oskar) Wöhrle in Konstanz und erkundigt sich bei diesem nach einer Pension für seine kranke Frau, die "nach eben überstandener Krankheit vor allem Ruhe und gutes Essen" braucht (2).

Er arbeitet in der Handelsvertretung der Sowjetunion und beteiligt sich an der Filmorganisation der Internationalen Arbeiterhilfe. 1931 gehört er mit Arvid Harnack, Georg Lukács, Friedrich Lenz und Karl August Wittfogel zu den Mitgliedern der "Arplan" (Arbeitsgemeinschaft zum Studium der Planwirtschaft). Igor Cornelissen vermutet, dass Oehring 1932 die Arplan-Delegation begleitete, die die Sowjetunion bereist. Im Protokoll der Studienreise findet sich sein Name allerdings nicht.

Sowjethandel und Dumpingfrage1933 verlässt Oehring mit seiner Familie Deutschland und emigriert nach Holland, wo er für die sowjetische Handelsorganisation Exportchleb und zugleich für den russischen Geheimdienst arbeitet. Seine 1931 erschienene Schrift "Sowjethandel und Dumpingfrage" findet sich auf der "Liste 1 des schädlichen und unerwünschten Schrifttums" der Reichsschrifttumskammer vom Oktober 1935 (3). Seit dem 1. Oktober ist Oehring mit seiner Familie in Amsterdam gemeldet (Legmeerstr. 66). Er unterhält engen Kontakt zu Ignaz Reiss, der in Holland und anderen Ländern als Agent operiert Reiss wird im September 1937 - nach seiner öffentlichen Abrechnung mit Stalin und Parteinahme für Trotzki - in Lausanne von Agenten der Auslandsabteilung des NKWD auf offener Straße erschossen. Oehring wirbt Johan Huijts, den Auslandsredakteur der Zeitung "Nieuwe Rotterdamsche Courant“ (NRC) für die geheimdienstliche Arbeit an. Es ist unklar, ob sein Ausscheiden bei Exportchleb 1939 mit dem Tode von Reiss zusammenhängt. Er wird Wirtschaftsberater des NRC, versorgt Huijts mit Nachrichten aus der Sowjetunion und kann durch ihn im Wirtschaftsteil der Zeitung publizieren. Wie Huijts später berichtet, bekümmerte es Oehring sehr, dass es ihm nicht gelang, die sowjetische Staatsbürgerschaft zu erhalten. So begeht er am 14. Mai 1940, dem Tag der Bombardierung Rotterdams durch die deutsche Luftwaffe, Selbstmord.

Margarete Oehring

Margarethe Oehring erinnert sich 1977, von Ulrike Lehner befragt: "Ich lernte viel u. zugleich nichts, war 1914-18 nur Kriegskrankenpflegerin, auch im Ausland in einem Epidemiespital, wurde 'sogar dekoriert' u. lernte in Wien bei einem kurzen Urlaub in einem Caféhaus namens Hungaria, welches bei uns eine große Rolle spielte, meinen schwer melancholischen Mann kennen (ein Süddeutscher) u. wir hatten uns lieb ohne Geld u. Essen u. wir emigrierten nach Holland in 1933. – 1940, als 'sie' [gemeint sind die Nazitruppen] kamen, beging mein sehr feiner u. geliebter Mann Selbstmord. Mein Kind Mimi ging ins Gymnasium u. ich bettelte mich mit 'Wiener Charme' durchs Leben. Natürlich wurde ich arrestiert, lange u. grässlich. Ich überlebte (über'vegetierte') u. muss es wie Heine sagen: Aber fragt mich nicht wie!" (4)

Richard Oehring

Erinnerungen an Richard Oehring

"Mein Partner", so schreibt Franz Jung, "bei diesen Abenteuern war einer der wenigen aus dem Aktionskreis, mit dem ich mich verstanden habe: der Lyriker Richard Öhring. Im Krieg ist auch diese Freundschaft zerbrochen - nicht deswegen, weil zu dieser Zeit Cläre Öhring mich bei sich aufgenommen hatte. Öhring, der wie so viele von uns Schwierigkeiten mit den Einziehungsbehörden hatte, war nach Wien zu Otto Groß gefahren. Von dort ist er nach wenigen Monaten völlig verwandelt zurückgekommen, aggressiv, von einer ihm bisher völlig fremden schneidenden Ironie ... es ist nie zu einer Aussprache gekommen, die Frau hat er einfach stehen lassen. Ich war gezwungen, ich mußte mich gegen ihn wenden. Was ist das für eine Barriere, die sich plötzlich zwischen zwei Menschen aufrichten kann? Vielleicht haben wir Fehler gemacht, vielleicht ist ein Mensch an irgendeinem Punkte plötzlich zutiefst getroffen. Ich habe solche Situationen selbst erlebt, Teil der Verschmähung ... es ist dann unmöglich umzukehren, zurückzuschauen ... so ist Richard Öhring aus meinem Leben geschieden. Ich habe ihn nicht mehr wiedergesehen. Als wir uns später in Rußland wieder begegnet sind, kannten wir uns nicht mehr." (5)

Ludwig Kunz, der 1938 nach Holland emigrieren konnte, verweist in seiner Würdigung Oehrings 1977 darauf, dass Franz Jung diesen an anderer Stelle als einen "wirtschaftstheoretisch interessierten Politiker und zugleich Lyriker" bezeichnet hat, "ein scharfer Rationalist und illusionär denkender Phantast in einem" (6). Er verweist außerdem darauf, dass Oehring 1924 von Alfred Kerr als "ein wirklicher Dichter, der seine Verse auch zu sprechen weiß" charakterisiert wurde und ein "auch in England bekannte(r) Wirtschaftstheoretiker" war (7).

Sophie Templer-Kuh, die Nichte von Margarethe Oehring und Tochter von deren Schwester Marianne und Otto Gross, berichtet in einem Brief an den Autor vom 10. Juli 2005: „Als Kind kannte ich meine eigene Geschichte nicht und so wusste ich nichts von der Vorgeschichte meines Onkels Richard. Er war zuvor mit Claire Jung verheiratet, war auch beteiligt an der "Aktion" und so kannte er all die, die beteiligt waren, also auch Franz Jung. Als Kind war ich selten zu Besuch bei meiner Tante Grete und deren Tochter Mimi. Sie wohnten in der Urbanstraße in der Wohnung vom Vater von Onkel Richard. Nach meinem Gedächtnis war der Vater ein großer, stattlicher älterer Herr. Bevor er in Rente ging, war er ein hochgestellter Beamter beim Postamt. Wenn er durch die Hintertür herein kam, ging er in sein Zimmer ohne irgendjemand zu beachten. Wir alle sollten dann immer ganz stille sein. Es muss nicht leicht für diesen stolzen Mann gewesen sein: sein nichts verdienender Sohn und dessen Politik. Er duldete ihn und seine Familie. Aber sonst blieb er streng für sich.“

Anmerkungen

1) Das Zitat im Titel entstammt Richard Oehrings Gedicht "Van Gogh", vgl. Kunz, Ludwig: Propheten, Philosophen, Parteigründer ... Eine Erinnerung an Richard Oehring und seinen Kreis. In: Würzner, Hans: Zur deutschen Exilliteratur in den Niederlanden 1933-1940. Amsterdam 1977, S. 126

2) Briefwechsel Max Wöhrle, Saarländische Universitäts- und LandesBibliothek, Sign.: WÖBR/P709

3) Reichsschrifttumskammer: Liste 1 des schädlichen und unerwünschten Schrifttums. Berlin 1935, S. 89

4) Für die freundliche Überlassung des Briefes von Margarethe Kuh an Ulrike Lehner vom 16. November 1977 danke ich Sophie Templer-Kuh.

5) Jung, Franz: Der Weg nach unten. Leipzig 1991, S. 93

6) Kunz, Ludwig: a.a.O., S. 122

7) Ebenda

Werke (alphabetisch)

  • Absolution. In: Die Aktion. 3. Jg., Nr. 46, 15. November 1913, Sp. 1082
  • Bemerkung. In: Freie Straße. 3. Folge. 1916, S. 3-4
  • Das Gespräch. In: Die Aktion. 3. Jg., Nr. 2, 8. Januar 1913, Sp. 52
  • De Profundis. Charité. In: Die Aktion. 3. Jg., Nr. 10., 5. März 1913, Sp. 303
  • Der Bruder. In: Freie Straße. 5. Folge. 1916, S. 11-14
  • Der Dichter. In: Die Aktion. 2. Jg., Nr. 51, 18. Dezember 1912, Sp. 1613
  • Der Fluch. In: Freie Straße. 3. Folge. 1916, S. 4-5
  • Der Gehemmte. In: Die Aktion. 3. Jg., Nr. 2, 8. Januar 1913, Sp. 52
  • Der Käfig. In: Freie Straße. 1. Folge. 1915, S. 9-14
  • Der Verräter. In: Die Aktion. 3. Jg., Nr. 27, 5. Juli 1913, Sp. 658
  • Die Erlösten. In: Die Aktion. 3. Jg., Nr. 51, 20. Dezember 1913, Sp. 1190
  • Die Internierung des Dr. Otto Gross und die Polizei. In: Wiecker Bote. 1. Jg., H. 7, März 1914, S. 1-3
  • Die Organisation des modernen Fabrikbetriebes. Berlin 1920
  • Eisenbahnfahrt. In: Die Aktion. 5. Jg., Nr. 20/21, 15. Mai 1915, Sp. 252
  • Erlebnis. In: Die Aktion. 5. Jg., Nr. 22/23, 29. Mai 1915, Sp. 278
  • Frau. In: Die Aktion. 5. Jg., Nr. 39/40, 25. September 1915, Sp. 497-498
  • Gespräch in mir. In: Freie Straße. 3. Folge. 1916, S. 13-14
  • Insel der Kalypso. In: Die Aktion. 2. Jg., Nr. 48, 27. November 1912, Sp. 1518
  • Landschaft. In: Die Aktion. 5. Jg., Nr. 31/32, 7. August 1915, Sp. 399
  • Schneeland. In: Die Aktion. 3. Jg., Nr. 6, 5. Februar 1913, Sp. 174
  • Schwermut. In: Die Aktion. 2. Jg., Nr. 50, 11. Dezember 1912, Sp. 1587
  • Sowjethandel und Dumpingfrage. Berlin 1931
  • Straßen fließen steinern in den Tag. Gedichte, Erzählungen, Aufsätze. Siegen 1988
  • Verwandlung. In: Die Aktion. 2. Jg., Nr. 48, 27. November 1912, Sp. 1518
  • Vor Frühling wandernd. In: Die Aktion. 5. Jg., Nr. 26, 26. Juni 1915, Sp. 328
  • Zwang und Erleben. In: Freie Straße. 5. Folge. 1916, S. 5

Sekundärliteratur

  • Anonymus: Wolf in de klem. 2000. www.stelling.nl/
  • Arbeitsgemeinschaft zum Studium der sowjetrussischen Planwirtschaft (Arplan): Protokolle der Studienreise nach der Sowjet-Union vom 20. August bis 12. September 1932. Berlin 1932
  • Cornelissen, Igor: De GPOe op de Overtoom. Amsterdam 1989, S. 89, 145-147, 151
  • Dallin, David J.: Die Sowjetspionage. Köln 1956, S. 277
  • Graf, Oskar Maria: Wir sind Gefangene. München 1978, S. 140
  • Jahresbericht des Luisenstädtischen Gymnasiums. Berlin 1909, S. 18
  • Jung, Cläre: Paradiesvögel. Hamburg 1987, S. 13, 25, 30, 39ff., 48ff., 54
  • Jung, Franz: Der Weg nach unten. Hamburg 1986, S. 87f.
  • Kunz, Ludwig: Propheten, Philosophen, Parteigründer ... Eine Erinnerung an Richard Oehring und seinen Kreis. In: Würzner, Hans: Zur deutschen Exilliteratur in den Niederlanden 1933-1940. Amsterdam 1977, S. 119-128
  • Mierau, Sieglinde: Anmerkungen. In: Jung, Cläre. Paradiesvögel. Hamburg 1987, S. 204
  • Raabe, Paul: Die Autoren und Bücher des literarischen Expressionismus. Stuttgart 1985, S. 364