Vorbemerkung

Dieser Aufsatz, zusammen mit Rolf Mader (†) verfasst, erschien zuerst unter dem Titel "Ein Brief kommt nicht an: Otto Gross und die Münchener Räterepublik" in leicht veränderter Form in: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, 2001, No. 16, S. 495-502. Kommentare oder Hinweise bitte an Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein..

Der Brief

M.-Schwabing, Belgradstr. 57.

7. April 1919

Sehr geehrter Herr Dr!
Nachdem Mühsam
in der Angelegenheit des Dr. Groß=
Graz mit Ihnen, sehr geehrter Herr Dr.
gesprochen, versuchte Frl. Kuh (1) mehr-
mals vergeblich, Sie zu treffen.
Ich bemühe mich nun, um eine
einige Minuten dauernde Unter-
redung mit Ihnen zu erreichen!
Werde morgen in Ihrer Wohnung vorsprechen
& falls ich Sie nicht antreffe,
bitte ich Sie höflichst & dringend,
Ihrer Frau Gemahlin zu hinterlassen,
wo Sie aufzufinden sind. Im
Voraus meinen herzlichsten Dank!

 

In geschwungener Schrift, besonders beim "M" des Ortsnamens, vor allem aber beim "S" in der Anrede, liegt ein Brief (2) vor uns, den die Kunstmalerin Guste ("Gusta", eigentlich Auguste) Ichenhäuser (3) an Felix Noeggerath schrieb. Er befindet sich bei den Gerichtsakten des Verfahrens gegen Eugen Leviné und ist vermutlich nicht abgesandt, sondern bei einer Durchsuchung der Wohnung Guste Ichenhäusers beschlagnahmt worden (4).  Der 7. April 1919, so viel steht fest, war kein gewöhnlicher Tag. In einem Flugblatt "An das Volk in Baiern" ruft der revolutionäre Zentralrat Baierns und der revolutionäre Soldatenrat die Räterepublik aus. Es ist der 49. Geburtstag Gustav Landauers, der die Proklamation mitunterzeichnet hat und stolz an seine Töchter telegraphiert: "An meinem Geburtstag wird Räterepublik ausgerufen heute ist Nationalfeiertag ich bin Volksbeauftragter für Volksaufklärung, früher Kultusminister. Innige Wünsche Euer Vater" (5). Bereits am 4. April hatten Vertreter revolutionärer Gruppen und Organisationen die sofortige Proklamation der Räterepublik beraten, sie dann aber, nachdem die KPD kategorisch die Teilnahme ablehnte, auf Betreiben der SPD auf den 7. April vertagt. Felix Noeggerath (1885-1960) nahm an dieser Sitzung als Zuhörer teil (6).

Felix Noeggerath

Gershom Scholem geht näher auf Noeggeraths Rolle in den Revolutionstagen ein: danach ist N. "der letzte Kulturminister der unter Führung der sehr kontroversen Figur von Franz Lipp stehenden ersten Räterepublik, die sich nur eine Woche hielt" (7) gewesen. Jedenfalls war sein Einsatz für die Republik hinreichend, um ihn und seine Familie nach der Niederschlagung der Räterepublik mehrere Wochen in Haft zu halten, bevor er am 1. Juli 1919 wieder entlassen wurde (8).

Für Guste Ichenhäuser waren die Tage der Revolution nicht minder turbulent. In der Belgradstraße 57, die sie als Adresse in ihrem Brief angibt, befand sich die "Pension Fürmann" (9), einer der Schwabinger Kulminationspunkte, in der vornehmlich Künstler als Gäste verkehrten und die von Luise und Heinrich Fürmann betrieben wurde. Ihr Sohn Ernst Zeno Ichenhäuser (1910-1998) erinnert sich: "In der Ferne erdröhnte ein Brausen, das auf- und abschwoll und wieder aufheulte. »Das ist die Revolution«, sagte jemand mit erschauernder Stimme. (...) Rote Fahnen, helle Farbflecke in der grauen Geschlossenheit der Reihen. Und da, in weiten Umhängen, ein Transparent schwingend mit der Losung »Es lebe die Diktatur des Dadaismus«, eine Gruppe von Künstlern, mir wohlbekannte Gestalten". Auch die Durchsuchung der Wohnung und Beschlagnahme sind präsent: "In der Nacht wurde ich aus dem Schlaf gerissen. Benommen nahm ich dunkle Gestalten war, die huschend und wühlend das Zimmer erfüllten. Die Mutter stand wie eine Säule an meinem Bett und hatte beruhigend die Hand auf meinen Arm gelegt. So fühlte ich mich weniger ängstlich als widerborstig gegen die Eindringlinge. Einer zog die Schublade auf, in der meine Spielsachen lagen, und fuhr ungeduldig mit der Hand darüber hin. Die rote Armbinde! durchzuckte mich ein Schreck. Der Mann schloß die Schublade mit einem Knall. Die Mutter, im Mantel, beugte sich über mich. Ein Mann sagte nicht unfreundlich: »Sei ruhig, deine Mutter kommt bald wieder«". (10)

Polizeiausweis Augusta (Guste) Ichenhäuser

Die Vermutung also, der Brief habe seinen Empfänger gar nicht erreicht, scheint berechtigt. Was aber hat es mit diesem "Dr. Groß=Graz" auf sich, in dessen "Angelegenheit" Guste Ichenhäuser, Mühsam und Frl. Kuh mit Noeggerath sprechen wollten?

Otto Gross (1877-1920) war in München kein Unbekannter. Bereits 1906 hielt sich der Psychoanalytiker dort auf, verbrachte eine Zeitlang als Assistenzarzt an der von Emil Kraepelin geleiteten Psychiatrischen Klinik. Seine ständige Adresse und zugleich seine wirkliche "Praxis" aber ist das Café Stephanie in der Türkenstraße. Er wird fester Bestandteil der Bohème und Anarchistenszene und als er 1908 in Maximilian Hardens "Zukunft" den Aufsatz "Elterngewalt" (11) veröffentlicht, provoziert er einen Skandal, der nicht nur die bürgerlichen Kreise Münchens erschreckt. In einem Brief an seine Geliebte Frieda Weekley (geb. von Richthofen und spätere Lawrence), schrieb er dazu:

"Ich habe in diesen Tagen / eine sehr interessante Arbeit, / die mir jetzt wunderbar ge- / legen kommt. Ich mache den / Versuch, durch eine Inter- / vention beim Vormundschafts- / gericht, die Elisabeth Lang / zu befreien, die jetzt von / ihren Eltern in einer schand- / baren Freiheitsberaubung / zuhause gehalten wird. / Die Aussichten scheinen gute / zu sein - ich habe derzeit / für den Advocaten das / Gutachten herzustellen und / darin nachzuweisen, dass / das erzwungene Verbleiben / im Elternhaus für sie gesund- / heitsgefährlich ist. - Wenn der / Process gelingen sollte, so wäre / das von einer grossen Tragweite.

3.
Es wäre die Erste gerichtliche / Anerkennung eines Anspruchs / auf Schutz der Individualität / - oder wie Einer von den / Juristen gesagt hat : der Nach- / weis, dass die Philister ge- / sundheitsschädlich sind - - / Dass der überhaupt erst er- / bracht werden muss." )12>)

Auch Gustav Landauer nahm Anteil an dem "Fall": schon am 10. Oktober 1907 schreibt er an die Schweizer Sozialistin Margarethe Faas-Hardegger: "(...) als ich in der Zukunft las, was da von dem Mädchen, das jetzt in der Irrenklinik ist, berichtet wird. Denn das ist doch Dein Mädchen, das Du zu Dir nehmen wolltest" (13). Elisabeth Lang ist auch für Felix Noeggerath keine Unbekannte. Gershom Scholem teilt mit, daß Noeggerath in den zwei Jahren vor der Novemberrevolution "eine lange Verlobungsgeschichte mit einem auffallend schönen jungen Mädchen aus der Familie Lang in Oberammergau" (14) hatte, aber nach wie vor unverheiratet mit Mutter und Schwester in der Leopoldstrasse wohnte, nachdem er nach Abschluss seines Studiums 1917 aus Erlangen nach München zurückgekehrt war.

Es ist eher unwahrscheinlich, daß sich das Bemühen von Guste Ichenhäuser mit Noeggerath Kontakt "in der Angelegenheit des Dr. Gross=Graz" aufzunehmen, auf diesen Fall bezieht, denn mittlerweile sind 11 Jahre vergangen und wir wissen nur, daß es Gross nicht gelang, nachzuweisen, "dass die Philister gesundheitsschädlich sind". Wir können nur annehmen, daß Noeggerath durch Elisabeth Lang von Otto Gross wußte, sicher aber - durch Erich Mühsam. Der kannte Otto Gross bereits seit 1906. Am 13. Mai schreibt er an Siegfried und Charlotte Mühsam: " ... Von Wien aus werde ich, wenn es irgend geht, für ein bis zwei Tage nach Graz hinüberfahren, wo ich nicht nur von den Verwandten, sondern auch von einem Privatdozenten der Medizin eingeladen bin, der mir eine, meiner Meinung nach, sehr bedeutende Arbeit im Manuskript zur Begutachtung hergeschickt hat, die sich mit psychophilosophischen Theorema beschäftigt. Ich lernte den Herrn im vorigen Jahr hier [Der Brief stammt aus Ascona, d. Verf.] kennen und wir haben uns dann angefreundet" (15). Fast ein Jahr später, am 28. Mai 1907 ist Sigmund Freud Empfänger eines Briefes von Erich Mühsam. Dieser bedankt sich für die Heilung von einer schwere Hysterie durch einen seiner Schüler: Dr. Otto Gross. Mühsam wohnt zu dieser Zeit in München, Türkenstr. 81/II - die gleiche Adresse hat auch Gross, das Café Stephanie.

Die Zeit dazwischen ist für Gross wie Mühsam ereignisreich. Mühsam beginnt eine Liaison mit Grossë Frau Frieda, fühlt sich von diesem deshalb verfolgt, die Beziehung kühlt ab. Als Gross im November 1913 in Berlin als gefährlicher Anarchist verhaftet und ausgewiesen wird, schließt sich die von Mühsam verantwortete Zeitschrift "Kain" sehr zögerlich der Pressekampagne für Gross' Freilassung an (16). Im gleichen Jahr wird Gross unter die Kuratel seines Vaters Hans Gross gestellt, nachdem zwei Amtsärzte "Wahnsinn im Sinne des Gesetzes" bescheinigt haben. Nichtsdestotrotz kommt er während des Krieges als Truppenarzt zum Einsatz, seine unablässigen Bemühungen um Aufhebung der Kuratel scheitern. Er publiziert, seine Schriften, anfangs klinischer Natur, wenden sich jetzt zunehmend politischen Fragen zu, ihn fasziniert der Gedanke, die Erkenntnisse der Psychoanalyse mit revolutionärer Praxis zu verbinden. Er reist viel, ist zeitweilig bei seiner Mutter, die nach dem Tod des Vaters (1915) jetzt in München wohnt.

Erich Mühsam hat in der Zwischenzeit die - für ihn wenig erfreuliche - Bekanntschaft Guste Ichenhäusers gemacht: In seinem Tagebuch vermerkt er am 8. Mai 1911: "Eine peinliche Überraschung wurde uns zuteil, daß die Ichenhäuser plötzlich mit Else Lasker-Schüler das Lokal [gemeint ist der "Simplicissimus", d. Verf.] betrat. Die eifersüchtige Megäre, die komplett wahnsinnig ist, hat Emmy in Berlin mit Schimpfreden und Drohungen nachgestellt" (17

Peinlicher dürfte für ihn gewesen sein, daß er von Lasker-Schüler und Ichenhäuser mit Emmy Hennings überrascht wurde. Lasker-Schüler und Hennings pflegten zu dieser Zeit eine veritable Feindschaft, Mühsam, vormals (und auch später wieder trotz Gonorrhöe) mit Emmy Hennings intim, versuchte zu beiden heimlich auskömmliche Beziehungen und sah nun seine Taktik durchkreuzt.

Am 9. Mai wiederholt sich das Drama, im "Bauer" stoßen Emmy Hennings und Mühsam erneut auf Ichenhäuser und Lasker-Schüler, Mühsam versucht sich als Parlamentär und behauptet in seinem Tagebuch, er habe "das Versprechen" von Lasker-Schüler erreicht, "sie werde während der Zeit ihres Münchner Aufenthalts nicht mehr den Simpl betreten noch Emmy im mindesten nahetreten" (18).

Wieder fühlt er sich regelrecht verfolgt. Am 11. Mai Mühsam zu Kathi Kobus: "(...) saß Elschen Lasker mit der Ichenhäuser richtig im Lokal" (19). Am 14. Mai erneut Ärger: "Die Lasker-Geschichte nimmt allmählich die Formen eine komischen Groteske an". (...) "Und nun beteiligt sich auch die Ichenhäuser - Emmy nennt sie unhöflich Frl. Siechenhäuser - an der Korrespondenz. Gestern bekam ich einen total verstiegenen Brief von ihr. Wenn ihr Diener Jehovah ermittle, daß ich ein Hurenvieh sei, so müsse ich Millionen Meilen weit von ihrem Lande fortgehen" (20).

Ob sich das Verhältnis zwischen Guste Ichenhäuser und Erich Mühsam in der Folgezeit entspannt hat, entzieht sich unserer Kenntnis (21). Immerhin scheint ein "informeller" Kontakt erhalten geblieben zu sein, wie der eingangs zitierte Brief beweist. Mühsam hat mit Noeggerath gesprochen. Aber worüber?

Gross veröffentlichte 1919 seine Arbeit "Zur funktionellen Geistesbildung des Revolutionärs" in der Berliner "Räte-Zeitung" (22>), in der er seine Auffassungen für eine Erziehung "nach der Revolution" darlegt. Nach seiner Einschätzung hatte der Weltkrieg die Verhältnisse gründlich zum Tanzen gebracht, seine Beendigung und die darauffolgenden revolutionären Entwicklungen, sowohl in Russland, als auch in Österreich und Deutschland, gaben ihm Hoffnung. Die vaterrechtlich strukturierte Gesellschaft gehörte abgeschafft, die Revolution sollte auch eine Revolution in der Familie zur Folge haben. Dafür benötigte man ein theoretisches und praktisches Konzept! Für Gross war klar, daß diejenigen, die in der alten Gesellschaft herangewachsen waren, der "Umerziehung" bedurften, gerade die junge Generation unter anderen Bedingungen aufwachsen müsse und erst die darauffolgende Generation wirklich reif für die Revolution sei, frei von den Schlacken der alten Gesellschaft. Auch Mose, stellte er in Analogie zur biblischen Geschichte fest, habe das gelobte Land nur schauen, aber nicht hineinziehen dürfen.

Wie lautete das von Gross geschaffene Konzept? Er schreibt: "Die Psychologie des Unbewußten erscheint deshalb berufen, im neuen Unterricht als souveräner Lehrstoff die zentrale Stellung im geisteswissenschaftlichen Unterricht einzunehmen und zum Substrat der funktionellen Geistesschulung zu werden, als Grundstoff einer Bildung, die als Befähigung zur Teilhaftigkeit an der Kultur zu definieren sein wird" (23).

"Es ist aus diesen Zerrbildern unverlierbaren Menschentums in jedem einzelnen, in dem sie sich erhalten haben, das jedem unbewußt verankerten Impuls zugrunde liegende unaufgebbare Gute aus den Verschränkungen, die es nur zur vollen Unkenntlichkeit und meistens in sein Gegenteil verkehren, herauszulösen und aus der Summe aller dieser, das verlorene Positive nach und nach enthüllenden Erkennungen der eigenen Persönlichkeit, die allgemeine wahre Gestalt des menschlichen Wollens und Forderns frei zu machen, stets neu empirisch die Wahrheit zu vermitteln, daß der natürliche angeborene Anspruch des Menschen an den Menschen die freie Beziehung freier Individualitäten ist, im Gegensatz zur Anpassung an den Druck der Außenwelt, aus der die universelle Krankhaftigkeit des menschlichen Trieblebens, die Unterwerfungsbereitschaft sowohl als der Wille zur Macht hervorgehen" (24).

"Es wird die volle innere Verbundenheit der staatlichen Institutionen mit denen der Familie zu zeigen sein: die Notwendigkeit der völligen Befreiung der Frau aus ihrer privaten Hörigkeit, der Abhängigkeit vom Mann als absoluter Grundbedingung jeglicher Befreiung überhaupt, die Notwendigkeit der Zertrümmerung der Vaterrechtsfamilie unter Errichtung des kommunistischen Mutterrechts" (25).

"Es wird die latente unbewußte Psychologie des Familienlebens aufzuzeigen sein, die Qualifizierung des Besitzanspruchs an Weib und Kind als Teilhaftigkeit und Mitschuld an den Werten und Institutionen des Bürgertums und Fixierung bourgeoisen Charakters, bourgeoiser Anpassungen und Befriedigungen. Die Notwendigkeit der Sabotage der Familie, vor allem der proletarischen, als Grundbedingung und psychologische Grundlage der Aufnahmefähigkeit für den Geist der Revolution" (26).

"Endlich: die Vorbedingung jeder sittlichen und geistigen Erneuerung der Menschheit ist die Notwendigkeit einer totalen Befreiung der werdenden Generation aus der Gewalt der bürgerlichen Familie - und auch die vaterrechtliche Familie des Proletariers ist bürgerlich! - durch das kommunistische Mutterrecht und aus der Anpassungsschule des Staates durch das System des revolutionären Unterrichts" (27/p>

"In dieser Erziehung wird endlich einmal der Gegensatz überwindbar sein, der Altruismus und Egoismus trennt. Es gilt, das Individuum selbst die Steigerung seines eigenen Seins in der freien Beziehung mit freien Menschen erleben zu lassen. Die tiefste Erfahrung ist die der freien Beziehung: die des wechselseitig durch die ungewollte freie Lebensäußerung des Individuellen ausgetauscht, die Existenz, das Sosein, die Entfaltung und den Aufstieg des einen für den anderen zum höchsten eigenen Gewinn gestaltet.

Das Ziel wird die Befreiung der Liebe von der Sabotage durch die latenten Autoritätsmotive sein, das passive wie das aktive, die Unterwerfungsbereitschaft wie den Willen zur Macht. Und damit wird ein Geschlecht erzogen werden, das, innerlich frei vom latenten unwiderstehlichen Hang zur Autonomie, die autoritätslose Menschlichkeit der Zukunft der Realisierung nähern wird" (28).

Dieses Konzept wollte Gross an den Mann bringen. In Felix Noeggerath, von Walter Benjamin nur als "Genie" oder "Universalgenie" (29) bezeichnet, dürfte er denjenigen erkannt haben, der durch Auffassungen und Einfluß am besten geeignet war, dafür im Kreis der Revolutionäre zu werben, insbesondere für die Kurse, die Gross im Rahmen eines neuen Unterrichts geben wollte. Ob Erich Mühsam als Mittler dieser Botschaft bei Noeggerath erfolgreich war, wissen wir nicht. In den Versammlungen und Projekten der Münchner Revolutionäre, z.B. in Gustav Landauers Kulturprogramm, spielen Gross' Vorstellungen keine sichtbare Rolle (30). Auch war die Zeit zur Entwicklung eines gesellschaftlichen Neubeginns denkbar knapp. Bereits am 13. April wurde Mühsam mit anderen verhaftet und ins Zuchthaus Ebrach, dann nach Ansbach verschleppt, am 29. April stand die weiße Soldateska vor München. Gustav Landauer wurde am 2. Mai erschlagen, am 5. Juni Eugen Leviné in Stadelheim standrechtlich erschossen. Aus der Traum! Auch Otto Gross sollte nicht mehr lange zu leben haben. Am 12. Februar 1920 wird er in Berlin aufgefunden, ein Opfer des Drogenkonsums, verhungert, am nächsten Tag stirbt er an den Folgen einer Lungenentzündung (31).

Literatur

1) Otto Gross war mit allen drei Schwestern des Wiener Essayisten Anton Kuh, Grete, Marianne ("Mitzi") und Nina, gut bekannt. Es ließ sich nicht ermitteln, welche hier gemeint ist.
2) Die Entdeckung verdanken die Verf. Hansjörg Viesel, Berlin, der ihnen Mitte 1999 eine Kopie von Guste Ichenhäusers Brief überließ.
3) Ausweis zum Empfang postlagernder Sendungen für Guste Ichenhäuser v. 11. Oktober 1915, ausgestellt vom 38. Polizeirevier der Stadt Berlin. Wohnort: Markgrafenstr. 33, Alter: 1. 1. 83 geb.; Größe: 1,62 m; Gestalt: mittel; Haare: dunkelbraun; Gesicht: gewöhnlich; Bes. Kennzeichen: Narbe unter dem rechten Kinn.
4) Staatsanwaltschaft Mü.I Nr. 2106/2; Wir geben hier die Vermutung von Dr. Werner Stephan, Münchner Staatsarchiv wieder. Wir danken dem Staatsarchiv München für die freundliche Erlaubnis zum Abdruck des Briefes von Guste Ichenhäuser.
5) Landauer, Gustav: An die Töchter, in: Landauer, Gustav: Briefe aus der Rätezeit, In: Viesel, Hansjörg (Hrsg.): Literaten an die Wand. Die Münchener Räterepublik und die Schriftsteller, Frankfurt a.M., S. 264
6) Egl, Thekla: Protokoll vor dem Standgericht, in: Viesel, Hansjörg (Hrsg.): Literaten an die Wand. Die Münchener Räterepublik und die Schriftsteller, Frankfurt a.M., S. 397-404, hier: S. 399
7) Scholem, Gershom: Walter Benjamin und Felix Noeggerath (1980/81), in: Scholem, Gershom: Walter Benjamin und ein Engel, Frankfurt 1983/1992, S. 78-126, hier S. 101
8) Ebenda
9) Dering, Florian: Die Pension Fürmann, in: Bauer, Helmut u. Elisabeth Tworek (Hrsg.): Schwabing. Kunst und Leben um 1900. München 1998, S.85-91
10) Ichenhäuser, Ernst Zeno: Wenn möglich - ehrlich. Berlin 1999, S. 31, 32, 35
11) Die Zukunft, Bd 65. 1908, S. 78-80
12) Brief bei den Verfassern, nicht datiert.
13) Buber, Martin (Hrsg.): Gustav Landauer - sein Lebensgang in Briefen. Frankfurt 1929, S. 217f.
14) Scholem, Gershom: a.a.O., S. 100
15) Mühsam, Erich: In meiner Posaune muß ein Sandkorn sein. Briefe 1900-1934. Hrsg. von Gert W. Jungblut. Vaduz 1984, S. 64
16) Nachdem die "Revolution" bereits im November auf den Fall Gross aufmerksam gemacht hat, erscheinen Stellungnahmen zum Fall in "Kain" erst im Januar, Februar und März. In der Stellungnahme in der Januar-Ausgabe (Kain, 10. Januar 1914, München) vermerkt Mühsam zum späten Reagieren in einer Fußnote: "Die Berliner Zeitschrift "Die Aktion" fühlt sich bemüßigt, mich anzugreifen, weil ich nicht schon in der Dezember-Nummer des "Kain" auf den Fall Groß eingegangen bin. Ich bin im Gegensatz zur "Aktion" der Ansicht, daß man spruchunreife Dinge nicht öffentlich erörtern soll. Solange Hoffnung besteht, daß ein Unrecht ohne Druck von außen gut gemacht wird, fühle ich keinen Zwang, den Verlauf der Dinge durch Geschrei zu komplizieren. Die "Aktion" möge sich mehr als bisher über die Tragweite des gedruckten Wortes Gedanken machen und die Redaktionsführung des "Kain" getrost meinem Ermessen überlassen. E. M."
17) Hirte, Chris (Hrsg.): Erich Mühsam. Tagebücher und Briefe 1910-1924. München 1994, S. 34
18) Ebenda, S. 35
19) Ebenda, S. 36
20) Ebenda; In den Anmerkungen für 1911 finden wir allerdings nicht Guste, sondern "Eliza Ichenhäuser (geb. 1869), Berliner Schriftstellerin und Frauenrechtlerin", die u.a. 1906 mit einer Veröffentlichung über das Frauenwahlrecht (Berlin: Duncker) an die Öffentlichkeit getreten war.
21) Else Lasker-Schüler jedenfalls hat eine ihrer Erzählungen ("Der Amokläufer") aus dem "Prinz von Theben" Guste Ichenhäuser "in lauter Kameradschaft" gewidmet. Außerdem hat sie mehr als einmal bei ihr gewohnt, zuletzt belegt ist dies für Anfang Februar 1915, vgl. Marbacher Magazin Nr. 71, 1995, S. 127. Diesen Hinweis verdanken wir Markus Hallensleben, Tokyo.
22) Räte-Zeitung. Erste Zeitung der Hand- und Kopfarbeiterräte Deutschlands. Bd. 1. 1919, Nr. 52, Beilage
23) Ebenda
24) Ebenda
25) Ebenda
26) Ebenda
27) Ebenda
28) Ebenda
29) s. Scholem, a.o.a.O.
30) Allerdings verweist das "Salzburger Volksblatt" in seiner Ausgabe 62 vom 15. März 1920, S. 4, darauf, dass Gross während "der Umsturztage ... an der kommunistischen Bewegung in München" teilgenommen hat.
31) Guste Ichenhäuser ist nach den Angaben ihres Sohnes 1943 im Ghetto Theresienstadt gestorben, ihr Name steht als einer von 70.000 an den Wänden der Pinchas-Synagoge in Prag. Felix Noeggerath starb am 29. April 1960 in München.