Zusammenfassung

Otto Gross bezieht sich auf einen Brief, den er von Frieda Weekley erhalten hat und bedankt sich für "das schöne, tiefe Bild, es sollte nicht so traurig sein". Unklar ist, ob er sich auf eine Schilderung im Brief bezieht oder auf eine mitgesandte Fotographie.

Er erinnert Frieda an eine "Nacht auf dem Meer" (vermutlich ist eine gemeinsame Überfahrt von Holland nach England im September 1907 gemeint) und ihre Worte "ich gehe, um zu kommen".

Er deutet eine durchgeführte Selbstanalyse an, mit deren Hilfe er mit falschem Selbstvertrauen abgeschlossen und mit den Schatten seiner Kindheit von "Angesicht zu Angesicht" geredet habe. Sein Stolz sei falsch und "Gespensterfurcht" gewesen, was ihm nun geblieben sei, sei echt.

Im Postskriptum des Briefes berichtet er, daß seine Frau Frieda bei ihm sei und er sie - die resigniert und skeptisch sei - zu "blühendem Leben" gewinnen wolle.

Otto Gross an Frieda Weekley

 

1.
Meine Geliebte,
ich danke Dir für
das schöne, tiefe Bild
es sollte nicht so
traurig sein - - -
Du, Frieda, hast in
Deiner Seele, in Deiner
wirklichen eigenen
herrlichen Natur
den Schutz der Kraft,
die unversiegbar quillt
- Du bist
nicht flügellahm - -

Du hast den starken
Glauben und die
starke Liebe, Du
hast das Wissen
um die eigene Schön-
heit, Du hast die
Freiheit und den
Adel, Frieda - -
Du selber hast mich
auserwählt und
dir darfst Du ver-
trauen : Geliebte, denk'
doch auch an mich

- und denk' an unsere
Nacht auf dem Meer
und denk' daran,
dass meine ganze
Liebe und meine
Sehnsucht auf Dich
warten, Frieda - -
Ich liebe Dich mit
einem neuen Stolz,
der mir geworden ist,
seit ich mit allem
fertig bin, was falsches
Selbstvertrauen in mir
war - - weisst Du,
seit ich mit allen

den Gespenstern aus
meiner bösen Kindheit [1]
und allen meinen
bösen Stunden von
Angesicht zu Angesicht
geredet habe und allen
falschen Stolz von mir
gethan, der eben nichts
als nur Gespenster-
furcht gewesen war -
seither vermag ich
Allem in's Auge zu
schauen : ich weiss,
dass keine schützende
verschönernde Illusion

2.
mehr in mir geblieben
ist - ich weiss, dass
mir nichts mehr
genommen werden
kann - was ich
noch habe, das ist
echtdas ist mein
neuer Stolz - - -
Geliebte, unsere Liebe
blüht wunderbar
in ihrer Kraft und
Fruchtbarkeit - in
ihrer prachtvollen
Wahrhaftigkeit - - -

in dieser letzten Zeit
der Prüfung erst hab'
ich das Wunderbare
unserer Liebe ganz
erkannt - - Vertrau
auf unsere Liebe
,
Frieda - - wenn Dir
in Deinem Leben
dort die Hoffnung
schwindet, dann
denk' doch an das
Echte, Grosse und Un-
verwundbare, was Tag
für Tag und Jahr für
Jahr auf Dich, Geliebte,
wartet - - - -

Geliebte, ich sehne
mich nach Dir -
wann seh' ich Dich
wieder ? Komm bald,
ich hab' Dich namen-
los lieb - - - Und
denkst Du manchmal
noch an Deine Worte
"ich gehe, um zu
kommen" ? -
Dein Otto

P. S. Frieda [2] ist hier,
in einer tiefen Re-
signation und Skepsis
- hinter der Oberfläche,
so eingefroren - -
Es gilt sie wieder neu
dem blühenden Leben
zu gewinnen - und
das ist diesmal schwer.
Du könntest mir darin
ganz unvergleichlich
helfen - hier braucht
Dich Alles, Du Geliebte !


1) Vgl. auch die wahrscheinlich 1919/1920 im Zuge des Versuchs einer Selbstanalyse entstandenen Aufzeichnungen von Otto Gross: Der Schrei verhallt heut' meist ungehört. Dokumentation und Rezeption nachgelassener Analysen und Träume des Otto Gross
2) Gemeint ist Gross' Frau Frieda, geb. Schloffer