Die politische Einordnung von Otto Gross fällt schwer. Sie ist sicher vor dem Hintergrund zu sehen, dass er sich schon früh als jemand sah, der einer eigenen Theorie folgt. Dafür sind seine frühen Bemühungen, theoriestiftend in der Medizin und Psychologie aktiv zu werden, Anhaltspunkte. Als beispielhaft kann hier seine Arbeit auf dem Gebiet der Persönlichkeitspsychologie gelten. So ging er als erster von der Annahme aus, dass die kortikale Erregung die Ursache für extravertiertes und introvertiertes Verhalten sei. (1) Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verlagern sich seine Bemühungen auf das Gebiet der Psychoanalyse, über das er allerdings schnell hinauswächst. An Frieda Weekley schreibt er: „In nächster Zeit, da ist in Salzburg der erste Congress der Freudschen Schule, da will ich einen Vortrag anmelden ‘culturelle Perspectiven‘ - da will ich mein Programm für mein Leben bringen. - Es ist ein Augenblick, wie er bisher noch ganz ohne Beispiel ist - das wir durch eine practische Methode, durch eine Untersuchungs-Technik auf Einmal in die Wesenheit des geistigen Lebens schauen können - und wer jetzt Augen hat, der sieht in dieser aufgethanen Perspective die Zukunft am Werk - - In dieser Richtung hab' ich freie Bahn, da liegt der riesige Schatten Freud's jetzt nicht mehr auf meinem Weg - - - -“ (2)
Noch unter dem Einfluss des Vaters stehend, beschäftigt er sich zunächst mit Fragen der Ethik, schnell aber mit abweichenden Erscheinungen, wendet sich der Hirn- bzw. Sinnesphysiologie zu. Es ist das Besondere, Individuelle, ja Abnorme, das ihn fasziniert und in dem er sich selbst, der sein Schicksal als ein Besonderes begreift, wiederfindet. Eine Auflösung erhofft er sich vom Kollektiv, der Zuwendung. Das erklärt seinen immensen Zuspruch, den er von Frauen erfährt, die ähnliche Gewalterfahrungen haben wie er. Die Idee des Geschlechtsaktes als Reinkarnation, wie sie u.a. von Heinrich Goesch vertreten wird, wird ihre Wurzeln bei Gross haben, dem es auf eine Aufhebung der Beschmutzung, eine Art Reinigungsakt ankam, um sich vom elterlichen Gewaltakt zu befreien. Dieser Impetus wendet sich schnell nach außen, ins Gesellschaftliche, weil er erkennt, dass die Vaterrechtsgesellschaft zwangsläufig Gewaltakte, wie er sie erfahren hat, hervorbringt. Seine Bemühungen sind darauf gerichtet, die Einflussnahme durch die Eltern zu verringern und die Selbstbestimmung zu fördern. Von kollektiven Akten der Befreiung, auch der sexuellen, analog zu den Astarte-Kulten, erhofft er sich Befreiung und assoziiert sich selbst an Mose, denjenigen, der den Weg in die neue Gesellschaft weist, selbst das Paradies aber nur schauen, dort nicht eintreten kann. Sein Konzept einer gesellschaftlichen Veränderung nimmt existierende, revolutionäre Bestrebungen auf, versucht diesen aber eine neue Grundlegung zu geben. Er erkennt die gemeinsamen Interessen zwischen sich und der proletarischen Bewegung, hat aber keinerlei Zweifel daran, dass auch diese im Kern unterdrückerisch ist. Seine theoretischen Arbeiten erscheinen in gewisser Weise ekklektisch, weil sie lediglich die Teile der Theorien der Revolutionäre aufnehmen, die geeignet sind, das eigene Konzept zu vervollständigen.
Um 1914 verlegt Gross seine Bemühungen auf das Feld des Praktischen. Ihn beschäftigen Erziehungsfragen. Er entwickelt ein Schulungskonzept für die junge Generation, die nicht mehr in der Knechtschaft der alten Gesellschaft aufgewachsen ist – wie die Generation der jungen Mütter und Väter -, die Kinder aus diesen Beziehungen wachsen folgerichtig nicht bei den Eltern, sondern in Pflegefamilien und den entstehenden Reformschulen auf. Den ausbrechenden Krieg bezeichnet er als Gelegenheit, die alte Vaterrechtsordnung zu stürzen und sucht Bündnispartner für diese Idee. Er glaubt sie zunächst bei anarchistischen Kreisen zu finden, das Gedankengut der Theoretiker des Anarchismus gehört zu seinem Rüstzeug. Allerdings ist er längst in heftige Auseinandersetzungen mit führenden Vertretern wie Gustav Landauer und Ludwig Rubiner verwickelt, die ihn wie einen Paria behandeln. An Fritz Brupbacher schreibt er 1912: „Ich trage mich schon seit längerer Zeit mit dem Gedanken, selber ein Blatt herauszugeben, etwa 'Organ für psychologische Probleme des Anarchismus', in dem [die] radikal individualistischen und allen bestehenden Institutionen schroff widersprechenden Ergebnisse einer konsequenten Erforschung des Unbewussten behandelt werden sollten - als einer Art von innerlich revolutionärer Vorarbeit. - Mir ist nur der Impuls dazu vorläufig recht gehemmt worden durch eine widrige Affäre mit Landauers Blatt. [...] Ich habe damals eine Erwiderung eingesendet, die ich als eine der bestgelungenen von meinen Arbeiten empfinde, und in der ich vor allem die unabsehbare Zukunft der Psychoanalyse gerade als Seele der revolutionären Bewegung von morgen begreiflich zu machen versucht habe. Landauer hat die Publikation dieser Antwort abgelehnt. [...] Dass ich dadurch gerade in den Kreisen, um die es mir zu tun ist, im vorneherein diskreditiert bin - und überhaupt, dass mir gerade von anarchistischer Seite das geschieht - als Antwort auf den ersten Versuch, im Dienst des Anarchismus mein Können zu verwerten, das hat mich so verstimmt, dass seither eine Hemmung mehr auf meinen Arbeiten liegt ...“ (3)
Gross erkennt bald die organisierende Kraft der Kommunisten und setzt auf diese, viele seiner Gefährten schließen sich dem Spartakusbund, später auch Abspaltungen der KPD an (Franz Jung, Richard Oehring, Eduard Schiemann). Wenngleich Gross sich bemüht, auf die revolutionären Ereignisse in München und Wien, aber auch in Ungarn Einfluss zu nehmen, lässt sein Gesundheitszustand eine dauerhafte Präsenz längst nicht mehr zu. Es sind bestenfalls seine Ideen, die Anklang finden. (4)
Werkschau
Mit „Die kommunistischen Grundidee in der Paradiessymbolik“ (1919) scheint er eine Schrift verfasst zu haben, die einen größeren Bekanntheitsgrad erreicht. Auch den im gleichen Jahr erschienenen Aufsätzen „Zum Problem: Parlamentarismus“, „Zur funktionellen Geistesbildung des Revolutionärs“, „Orientierung der Geistigen“ und „Zur neuerlichen Vorarbeit: Vom Unterricht“ (1920) ist eine Originalität für die revolutionäre Bewegung nicht abzusprechen. Das Surrogat dieser Arbeiten dürfte das Bemühen sein, originäre Gedanken zu entwickeln, die als Rüstzeug für die Schaffung einer neuen, freien, mutterrechtlich basierten Gesellschaft dienen könnten, sich so theoretisch fundamental von der alten Ordnung abzugrenzen und organisationspraktisch das Hauptaugenmerk auf die Erziehung der jungen Generation zu legen, die es nach neuen Prinzipien aufwachsen zu lassen galt.
In dieser Hinsicht sind zwei um 1920 entstandene und posthum publizierte Arbeiten von Gross zu besprechen, die in großer Klarheit seine Ideen entwickeln. Die Rede ist von „Themen der revolutionären Psychologie“ und „Zum Solidaritätsproblem im Klassenkampf“. Kurz gesagt postuliert Gross dort - als Antwort auf Franz Jungs „Zweck und Mittel im Klassenkampf“ formuliert (5) -, dass Proletarier und Bourgeois eigentlich „nur“ durch die ökonomische Lage getrennt sind, sie ideologisch nichts trennt.
“Die Entwicklung zum Willen zur Macht ist in allen Ständen und Klassen die gleiche, denn sie geht unmittelbar in der auf Macht gestellten Institution der Familie, der Vaterfamilie, vor sich. Das Verhältnis von Mann und Weib, von Eltern und Kindern ist in der bestehenden Ordnung auf eine Dynamik der Macht gegründet, und aus der Familie in ihrer bestehenden Form, kann immer und überall nur der Mensch mit dem Willen zur Macht hervorgehen - in allen Klassen und Ständen. -
Solange der Proletarier mit seinem Gegner die menschentumswidrige Institution des Besitzes an Weib und Kindern gemeinsam hat, solange ist er des Bürgers Mitschuldiger überhaupt. Solange werden die Kinder der Proletarier mit ganz denselben Aspirationen heranreifen wie die der Kapitalisten, mit dem Anspruch an Macht, an persönliches Sich-in-die-Höhe-drängen; solange wird wirtschaftlich immer die Disposition für das Gelingen von Fordschen Versuchen vorhanden sein, und nirgends wird sich ein innerer Gegensatz zwischen zwei Kategorien von Menschen, der bestehenden und einer neuen Art Mensch, und ihren Ansprüchen an die Gesamtheit der Welt ein exklusiver Kontrast zweier menschlicher Typen entwickeln können.“ (6)
Es kommt folglich darauf an, die Wurzeln des Willens zur Macht, den der Bourgeois eher realisieren kann, zu erkennen: die Unterdrückung durch die patriarchalische Gesellschaft, die auch dem „ärmsten Manne“ in jedem Fall die Möglichkeit gibt, jemanden (die Frau) zu besitzen und zu unterdrücken (das Kind). Der Proletarier hat - aufgrund der Unterdrückung durch den Bourgeois - den Impetus zur Revolution, die zur gesamten Befreiung führen muss. Allerdings wird eher eine kleine Gruppe - die Elite - in der Lage sein, die Revolution zu bewerkstelligen, weil die Massen erst nach der Revolution ihre wirkliche Situation erkennen werden. Auf der Basis einer mutterrechtlich strukturierten Gesellschaft, der Zerschlagung der Familie, wird die Unterdrückung beseitigt, die Kinder von der Gesellschaft - und nicht von der einzelnen Familie - versorgt. Eine langwierige Erziehung zur Freiheit, zur Solidarität ist notwendig. Die Psychoanalyse, die die wahren Beweggründe für das menschliche Verhalten aufdeckt, muss ein integraler Bestandteil sein. Der Wille zur Macht ist eine Form der Kompensation von Unterdrückung, der allen - klassenunabhängig - innewohnt. Er muss ursächlich bewusst gemacht werden.
Das im Text auftauchende Lenin-Zitat („Die Macht im Dienste der Idee, der 'Kondottiere des Geistes' nach dem herrlichen Worte Lenins, ist neue, zu uns gekommene Offenbarung.“) überrascht vielleicht, insbesondere seine unmittelbare Nähe zum Bekenntnis von Gross zu Kropotkin („... Faktoren, wie der des angeborenen 'Instinktes der gegenseitigen Hilfe' im Sinne Kropotkins, der Wille zur freien Beziehung an sich werden nicht verstanden, ja nicht einmal ernst genommen.“), weiss man doch um die Unvereinbarkeit beider in politischen Kontexten. Und doch erinnert diese Vorgehensweise deutlich an Gross’ Bemühen, die widerstreitenden Protagonisten der Psychoanalyse - Freud und Adler, später auch Freud und Jung - miteinander zu versöhnen, wie er es u.a. in „Über psychopathische Minderwertigkeiten“ (1909) versucht. Auch in der vorliegenden Schrift betont er durchaus die Unterschiede in den Auffassungen, besitzt aber selbst genügend Originalität, um sie - auf neuer Stufe - miteinander zu verbinden und zu versöhnen. So spürt er bei Lenin den Kropotkinschen Ansatz auf, definiert den Ansatz der gegenseitigen Hilfe als gemeinsame Wurzel, kokettiert mit Lenin und den gut organisierten Bolschewiki um sie als Organisatoren der Revolution zu umgarnen - und ihnen die Idee einer freiheitlichen Erziehung anzuempfehlen.
„Es ist das unfassbar große Ereignis der Gegenwart, daß dieser Geist das gesamte russische Volk zu durchdringen vermocht hat. In diesem Geist ist die Revolution, sind die Verteidigungskriege der Russen zum Siege gekommen; das ist der Geist, in welchem ein Volk, das das Herrlichste jemals auf Erden Gewesene zu verlieren hat, und darum weiß, 'mit furchtbarem Mut', wie die Gegner berichten, die Grenzen verteidigt, während im Schutz dieses Ringes die Genealität dieser Rasse und ihrer größten Menschen sich für den Dienst des einen erhabenen Werkes vereinigt hat: der Bereitung der Zukunft für die Kinder, die Schaffung freien Lebens und freier Kultur für die keimende Generation.“ (7)
(Wird fortgesetzt)
Fußnoten
1 Gabriele Becker, Reizanalyse und Reaktionsorganisation im CNV-Paradigma. Trier, Univ., Diss., 2000, S. 6
2 Otto Gross an Frieda Weekley, Brief, undatiert. www.dehmlow.de/index.php/de/2-uncategorised/161-otto-gross-an-frieda-weekley-brief-6
3 Otto Gross an Fritz Brupacher, Brief vom 26. April 1912. www.dehmlow.de/images/documents/brupbacher3.jpg;
www.dehmlow.de/images/documents/brupbacher4.jpg;
www.dehmlow.de/images/documents/brupbacher5.jpg;
www.dehmlow.de/images/documents/brupbacher6.jpg
4 Vgl. Raimund Dehmlow und Rolf Mader: Ein Brief kommt nicht an - die Botschaft bleibt erhalten: Otto Gross und die Münchener Räterepublik. www.dehmlow.de/index.php/de/otto-gross/115-otto-gross-und-die-muenchener-raeterepublik; Josef Dvorak: Kokain und Mutterrecht. Die Wiederentdeckung von Otto Gross (1877-1920). In: Neues Forum. Jg. 25. 1978, H. 295/96, S. 52-64
5) Franz Jung: Zweck und Mittel im Klassenkampf. In: Die Erde. Bd. 1. 1919, S. 357-360 I. Das Gemeinschaftsbewußtsein im Klassenkampf; S. 427-431 II. Gemeinschaft und Solidarität; S. 530-533 III. Die Etappen der revolutionären Atmosphäre; S. 670 – 673 IV. Proletarisches Klassenbewußtsein ist Klassenkampf
6 Otto Gross: Zum Solidaritätsproblem im Klassenkampf. In: Albrecht Götz von Olenhusen u. Gottfried Heuer (Hrsg.): Die Gesetze des Vaters, Marburg a.d. Lahn: LiteraturWissenschaft.de 2005, S. 415-421
7 Ebenda