Für Petra
Gunter Hofer in memoriam
Vorbemerkung
Otto Gross und Frieda Weekley gelten gemeinhin als Kult-, ja Skandalfiguren des beginnenden 20. Jahrhunderts, er - bekannt als genialer Freud-Schüler und -Abtrünniger, als Anarchist und Anhänger der "freien Liebe", als mehrfach Beihilfe zur Selbsttötung leistender Arzt, als chronisch Morphium- und Kokainsüchtiger, als zentrale Gestalt der Caféhäuser in Berlin, München und Wien, als Mittelpunkt politischer Kampagnen für die Aufhebung der durch den Vater für ihn erwirkten Kuratel, als der Verführer schlechthin, in zentralen Werken von Max Brod, Leonhard Frank, Franz Jung, Franz Werfel und Johannes R. Becher als literarische Gestalt verewigt, sie - besser bekannt unter ihrem Mädchennamen Frieda von Richthofen, oder später Frieda Lawrence, als "femme fatale", "Muse", vielleicht in ihrer Außenwirkung vergleichbar mit Alma Mahler-Werfel, die "treibende Kraft" hinter D. H. Lawrence.
Die Anzahl der Werke, die sich mit beider Wirkung auseinandersetzen, ist kaum überschaubar, reicht sie doch über einzelne Disziplinen wie die der Medizin und Psychoanalyse, Politik, Philosophie und Literaturgeschichte weit hinaus.
Wenig berücksichtigt bleibt dabei die Bedeutung der heftigen Liebesbeziehung, die beide seit 1907 verband. Sie fällt denn auch zumeist der determinierten Sichtweise der einzelnen Betrachter zum Opfer, sei es, daß man Otto Gross aufgrund seiner vermeintlich bekannten Theorien und Lebensart eine wirkliche "Beziehung", die tief und auf Dauer gerichtet ist, nicht zuweisen möchte (was angesichts der Fülle seiner Affären nicht schwerfällt), sei es, daß man sie Frieda Weekley nicht recht abnehmen möchte, da sie erst mit D. H. Lawrence den Schritt aus einer unbefriedigenden Ehe tat.
Was die Beziehung für Frieda Weekley bedeutete, enthüllt am besten die Tatsache, daß sie Gross' Briefe ihrem Mann Ernest Weekley hinterließ, als sie ihn 1912 verließ, um fortan mit D. H. Lawrence zu leben. Sie fanden sich im Harry Ransom Humanities Research Center in Austin, Texas. Von den Briefe Frieda Weekley's an Otto Gross sind nur wenige erhalten, kein Wunder, bei der nur chaotisch zu nennenden Lebenssphäre von Otto Gross. Brigitte Roßbeck (†) schildert die Beziehung in einem Brief an mich so: "Ganz sicher war sie die Stärkere im Sinne von Stabilere: wie manche andere später noch bediente er sich aus ihrem schier unerschöpflichen Vorrat, um nicht zu sagen Überschuss, an Vitalität, Selbstvertrauen und Lebensmut. Einer wie sie war Gross zuvor wohl nie begegnet. Und sie auch keinem wie ihm. Doch filterte sie nur das für sie selbst Beste aus seinem unkonventionellen Angebot heraus. Instinktsicherheit war nämlich gleichfalls Friedas Sache und ihr Selbstschutz jederzeit bestens ausgeprägt, so wich sie Otto Gross letztlich aus. Er hätte ihrer länger - auf Dauer vielleicht - bedurft. Sie kam, leichter, ohne ihn aus. Allerdings mit dem von ihr ins Alltagstaugliche umgemünzten Erfahrungsschatz im Gepäck, auf ihn wollte/konnte sie forthin nicht verzichten" (Mail vom 7. Februar 2003). So wie wir im Falle Friedas getrost ihren Schritt zur Trennung von ihrem Ehemann, aber auch verschiedene Hinweise in ihrem z.T. autobiographischen Veröffentlichungen "Not I, but the Wind" oder "The Memoirs and Correspondence" als Ausdruck der tiefen Bedeutung der Liebe zu Otto Gross nehmen können, so sprechen im Falle von Otto Gross die vorliegenden Briefe eine deutliche Sprache.
Es ist schwierig, sie in eine chronologische Ordnung zu bringen, sie tragen kein Datum, die Umschläge sind nicht erhalten. So blieb einzig der Weg der Rekonstruktion aufgrund in den Briefen geschilderter Ereignisse, die aus anderen Quellen verifizierbar sind. Einige der Briefe wurden bereits von Frieda selbst und später von Martin Green veröffentlicht, allerdings mit wesentlichen Auslassungen, z.T. auch bewußt falschen Angaben zur zeitlichen Abfolge, die vor allem (im Falle Friedas) einen Grund zu haben scheinen: die Bedeutung, ja Existenz der gleichzeitigen Affäre von Otto Gross zu ihrer Schwester Else (Jaffé) sollte verheimlicht werden, sowohl um diese zu schützen, als auch, wie wir sehen werden, weil diese Beziehung einen Schatten auf die Beziehung der Schwestern zueinander wirft, schließlich aber auch weil ansatzweise deutlich wird, daß die theoretische Annahme, man könne sich einander "frei hingeben", eine praktische und gefühlsmäßige Widerlegung findet.
Die Briefe enthüllen in der wiedergegebenen gedanklichen Fülle einen großen Briefschreiber, der hier, durchdrungen von seinen gewonnenen Einsichten, doch ganz anders als in seinen sonstigen, sachlich kühl gehaltenen Schriften, mit warmen Worten um die Geliebte wirbt, was seinen stärksten Ausdruck wohl in der Metapher "Du Kreuz des Südens über meiner Fahrt" findet. Zugleich sind die Briefe ganz offensichtlich ein Hilfeschrei - der Hilfeschrei eines Süchtigen, der sich selbst zu therapieren versucht, die Aufgabe zu bewältigen vorgibt und doch vor ihr versagt, weil er in viel stärkerem Maße der Hilfe bedarf, als er glauben zu machen versucht. Der Gemütszustand des Briefschreibers wird sehr anschaulich durch die Unterstreichungen in den Briefen dokumentiert, die den Originalen entsprechen. Die Briefe sind noch in einer weiteren Hinsicht Dokumentation einer Tragödie, spiegeln sie doch die sukzessive Widerlegung eigener Überzeugungen ohne positive Auflösung. Immer wieder wird die "freie Hingabe" postuliert, eine wirkliche Verbindlichkeit in der Liebe aber schließlich doch der enttäuschten Beliebigkeit geopfert: Frieda Weekley blieb bei ihrem Mann Ernest in Nottingham, um erst später, eben zusammen mit D. H. Lawrence und anderen, Gelebtes und Gedachtes zu verwirklichen, Otto Gross war ein ruheloses Leben vorbehalten, nachdem er die "Frau der Zukunft" gefunden - und verloren hatte.
Am 15. August 1989 fragte ich zum ersten Mal beim Harry Ransom Humanities Research Center, Austin (Texas) an, um die Rechte zur Veröffentlichung der im Bestand der Einrichtung befindlichen Briefe von Otto Gross an Frieda Weekley zu erwerben, die mir bald gewährt wurden. Daß dies nun erst heute - und in Form einer Veröffentlichung im Internet - geschieht, ist im wesentlichen auf einen Schock zurückzuführen, den ich erlitt, als mir später die 1990 in der Reihe "D. H. Lawrence Review" publizierte Monographie von John Turner unter die Nase gehalten wurde. Doch der "probende Schmerz der ist mir zum Keim geworden - den weiss ich treibend und befruchtend wirken" (Otto Gross) ... und so ist die Arbeit - wenn auch erst heute - getan.
Ich habe an dieser Stelle Dank zu sagen: dem Harry Ransom Humanities Research Center, Austin (Texas) für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung der Briefe, Tessa und Jeff Clements, sowie Nora Venn für Hilfestellungen beim Auffinden von Frieda Weekley's Lebensverhältnissen in Nottingham, Gottfried Heuer und Rolf Mader für bibliographische und sonstige Hilfen, Rolf Löchel und Prof. Dr. Hans Peter Schramm bei der Verifizierung von Zitatstellen. Für Idee und Verwirklichung der Graphik zum Briefwechsel danke ich Guido Böse und Torsten Zirk.
Die Wiedergabe der Briefe folgt den jeweiligem Original. Aus diesem Grund fallen manche Zeilen kürzer aus, als die anderer Briefe - in diesen Fällen wurde von Otto Gross z.B. Papier im heutigen A5-Format benutzt. Der Beginn einer neuen Seite ist jeweils durch eine doppelte Zeilenschaltung kenntlich gemacht, von Otto Gross am Original vollzogene Korrekturen sind in Fußnoten beschrieben, die Schreibweise - mit Ausnahme von Gross vorgenommener doppelter Unterstreichungen (die von mir als einfache eingeführt sind) - entsprechen dem Original. Sofern von Otto Gross eine Zählung der Seiten vorgenommen wurde, ist diese gleichfalls - wie im Original - der jeweiligen Seite vorangestellt. Die zu Beginn eines jeden Briefes eingeführte Zählung in eckigen Klammern stammt von mir.
Zusammen mit den Briefen von Otto Gross, die Frieda Weekley verwahrte, fand sich auch ein Blatt mit Aufzeichnungen von Otto Gross zu einer von ihm 1906 in der Münchener Psychiatrischen Klinik behandelten Patientin, das hier als Anlage wiedergegeben ist. Gabriele Neundörfer hat sich mit einem anderen Teil von Gross' Aufzeichnungen zu diesem Fall, die in der Psychiatrischen Klinik in der Münchener Nußbaumstraße vorliegen, in ihrem Aufsatz "Otto Gross und die Königlich Psychiatrische Klinik in München", abgedruckt in: Dehmlow, Raimund u. Gottfried Heuer (Hrsg.): Bohème, Psychoanalyse und Revolution. 3. Internationaler Otto Gross Kongress. Marburg 2003, S. 47-51, befasst.